LEBENSMODELLE IN PRENZLAUER BERG

Wie sich Zusammenleben formiert

Abseits der Schlagzeilen und Nachrichten kommen geflüchtete Menschen in Prenzlauer Berg an, andere helfen ihnen dabei. Wie sich, über Willkommenskreise, doodle-Listen und Nachbarschaftsbegegnungen, ein Zusammenleben formiert. Über die Atmosphäre des Dazwischen.

Zeitung Prenzlauer Berg Magazin
Porträts von denen, die unter uns leben: Der Grafiker Guillaume Bruère zeichnete Bewohner der Notunterkunft in der Winsstraße.

Sie hängen in Reihen und füllen eine ganze Wand: sechs, sieben jeweils nebeneinander. Vier, fünf jeweils untereinander. A4-Blätter mit Zeichnungen. Gesichter, alt, jung, müde, ängstlich, erwartungsfroh. Vis a vis, an der anderen Wand, hängen Schwarz-Weiß-Fotos. Männer, Frauen, müde, offen, neugierig.

Die Bilder sind oft nur mit Klebestreifen an der Wand befestigt. Sie tragen den Charakter des Improvisierten, der Eile, des Unfertigen. Sie sind entstanden in den Momenten des Ankommens, des Transits der Menschen, die darauf zu sehen sind. Flüchtlinge und ehrenamtliche Helfer.

Der Fotograf Jörg Steinbach und der Grafiker und Bildhauer Guillaume Bruère haben gemeinsam diese Menschen porträtiert, die der Zufall und die Weltgeschichte zusammengebracht haben. Mit Kamera und Stift sind sie in die Turnhalle in der Winsstraße gegangen, mehrere Tage lang. Bilder  entstanden immer wieder aufs Neue, weil die Menschen in der Notunterkunft wechselten. 

Steinbach und Bruère fanden mit Fotografien und Zeichnungen zwei künstlerische Mittel für zwei Menschengruppen. Anders als die Fernseh- und Nachrichtenbilder der vergangenen Wochen und Monate schaffen diese Bilder, die bis vor kurzem in der Fotogalerie in der Winsstraße zu sehen waren, dauerhafte, unmittelbare Eindrücke. Weil die Menschen darauf uns direkt anschauen.

Zeitung Prenzlauer Berg Magazin
Junges Leben, erfahrener Blick. Porträt eines geflüchteten Jungen.

Dass da zwei Männer losziehen, um ihre zeitweiligen Nachbarn zu porträtieren, ist eine der unzähligen Geschichten darüber, wie sich Zusammenleben in Prenzlauer Berg formiert. Etwa 1000 Geflüchtete aus den Krisengebieten der Welt leben derzeit zeitweilig oder länger im Stadtteil, 3500 im gesamten Bezirk Pankow. Rund um die drei Notunterkünfte in den Turnhallen Wins-, Wichert- und Malmöer Straße und den Sammeleinrichtungen in der Straßburger und der Storkower Straße haben sich Willkommenskreise formiert, die die Arbeit der professionellen Helfer unterstützen. 

Prenzlauer Berg ist nicht Sachsen. Hier gibt es leise, selbstverständliche Hilfen statt lautem Gegröle und Übergriffen. Laut wird einzig die Bezirkspolitik in Gestalt des Pankower Bürgermeisters, der gegen Turnhallen-Belegung und mobile Unterkünfte wettert statt Alternativen aufzuzeigen. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung lobt derweil einen Planungswettbewerb aus, auf der Suche nach Wohn- und Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge in der ganzen Stadt. „Heimat in der Fremde“ will Orte des Bleibens mitten unter uns schaffen.

Prenzlauer Berg ist auch nicht Köln, der Silvesterabend am Bahnhof. An manchen Abenden kommt die Polizei zu den Turnhallen, weil die jungen Männer, draußen stehend und rauchend, ihre Meinungsverschiedenheiten mit Fäusten austragen. Da treffen dann auf andere Weise verschiedene Kulturen aufeinander und die Frage bleibt, wie sich das Zusammenleben weiter gestalten wird. In den Unterkünften, in denen Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionen auf engstem Raum aufeinanderhocken. Mit den Nachbarn, wenn die Turnhallen statt zeitweilige Unterkunft dauerhafte Bleibe werden. Im Moment ist es eine Atmosphäre des Dazwischen.

Zeitung Prenzlauer Berg Magazin
Der Fotograf Jörg Steinbach initiierte die Porträts von Helfern und Flüchtlingen. Fotos (3): al

In Prenzlauer Berg dominiert, immer noch und immer stärker, das Engagement der Bewohner für ihre neuen Nachbarn. In den Willkommens-Initiativen, die sich für jede Turnhalle, für jede Notunterkunft gebildet haben. Deren Mitglieder organisieren nun schon seit Monaten Essensausgabe und Arztbesuche, Kleiderspenden und Kinderbetreuung. Sie übernehmen Patenschaften für Singles oder ganze Familien, sie organisieren Fußballturniere und Kennenlern-Treffs. Mit doodle-Listen und facebook-Gruppen organisieren sie Arbeitszeiten, Veranstaltungen, aktuelle Bedarfe an Sach- und sonstigen Spenden. Ein digitales Management der Offenheit und Großherzigkeit durchzieht wie ein Netz den Stadtteil.

Und oft genug kommt es auch zu spontanen Aktionen, die auf der Nähe und dem nachbarschaftlichen Nebeneinander von Notunterkunft und etablierter Einrichtung beruhen. Das wäre eine weitere Geschichte: Die Mitarbeiter eines Jugendklubs öffnen ihre Türen für gemeinsame Nachmittage und Abende. Die Idee kam von den jungen Mädchen aus dem Jugendklub. So wurden Treffen organisiert, auf denen deutsche, syrische, albanische und eritreische Kinder und Heranwachsende miteinander spielten, einander Handy-Fotos zeigten, zur Musik aus dem Smartphone tanzten. Gemeinsam kochten, einige Mütter waren dabei. Vom kleinen Glück der Frauen an diesen Abenden berichtet die Jugendklub-Leiterin. Dass sie endlich, nach vielen Monaten, wieder selbst kochen konnten. Wenn auch nur auf zwei Kochplatten, wenn auch nur ein einfaches heimisches Gericht. Sie waren und sind darüber glücklich, dass sie endlich wieder etwas Alltägliches, Selbstverständliches tun können. Dass sie raus kommen aus der Enge der Turnhalle, wo die Betten im Abstand von 25 Zentimeter voneinander stehen, lediglich durch Planen oder leichte Stoffe voneinander getrennt. 

Dieses Treffen wird es von nun an regelmäßig geben, ebenso wie ein Willkommenscafe für Frauen und Mädchen anderer Unterkünfte, in der Winsstraße und am Teutoburger Platz beispielsweise. Die Porträts von Flüchtlingen, fotografiert und gezeichnet, könnten ebenso zu einer dauerhaften Veranstaltung werden. Als mobile Schau derjenigen, die unter uns leben.

-al- (März 2016)

Infos über alle Willkommens-Kreise: www.pankow-hilft.de

Infos über die Porträts von Flüchtlingen und Helfern: www.photographieberlin.de