MÜHLENVIERTEL

Porträt in Kiezstimmen

Der Mühlenkiez definiert sich in seinem Anders-Sein von Prenzlauer Berg und ist doch Prenzlauer Berg. Nordöstlichster Zipfel, rund um die Michelangelostraße. Etwa 10.000 Menschen leben hier. Nun lassen einige von ihnen in ihr Leben blicken – im Band „Kiezstimmen“.

 

Zum Beispiel Ursula: „Ich wollte nie mitten in der Stadt wohnen, wo links und rechts nur Häuser sind“, sagt die 82jährige, die seit 1976 im Mühlenkiez lebt. „Deshalb fühle ich mich wahrscheinlich hier auch so wohl, weil, wenn ich rausgucke, ist es grün“.  Oder Eva, die seit 1959 in der Kniprodestraße wohnt: „Die Leute wohnen sehr gern hier, auch weil der Bus 200 direkt vor der Tür fährt und den Kiez mit dem Zentrum verbindet.“ Oder Jockel, der seit 2012 im Mühlenkiez zuhause ist: „Ich war sechs Monate auf Wohnungssuche. Dann zeigte ein Mitarbeiter der GEWOBAG mir eine Wohnung, für die es nicht so viele Interessenten gab. Das ist jetzt meine Wohnung.“

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Hoch hinaus, wo es sonnig ist: Typischer Bau im Mühlenkiez.

DISKUTIERTE ZUKUNFT

Der Mühlenkiez. Das Wohnquadrat zwischen Storkower und Michelangelostraße, Greifswalder und Kniprodestraße. Größtenteils Plattenbauten aus den 60er und 70er Jahren, dazu einige Häuser aus den 30er Jahren. Benannt nach den Mühlen, die hier bis ins 19. Jahrhundert standen. Später, bis in die 60er Jahre hinein, in weiten Teilen Gartenland. In den Kleingärten bauten sich die Nachkriegs-Menschen ihre Nahrungsmittel an. Dann mit der Plattenbebauung DDR-Vorzeige-Projekt, komfortable Alternative zu den heruntergekommenen Gründerzeitbauten des damaligen Prenzlauer Berges. Jetzt, seit einigen Jahren zudem eines der größten Wohnbau-Vorhaben des Landes Berlins – 1.200 neue Wohnungen sollen entlang der Michelangelostraße ab dem kommenden Jahrzehnt entstehen, heftig umstritten und diskutiert mit den BewohnerInnen. Diese sehen nicht nur die soziale Durchmischung der Bevölkerung und die bezahlbaren Mieten bedroht, sie haben auch Sorge um Freiflächen und Klima im Gebiet. Viele der Menschen sind bereits seit den 70er Jahren MühlenkiezlerInnen, den größten Anteil der Bevölkerung stellen Frauen zwischen 70 und 80 Jahren.

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Kiezstolz im Graffiti: Entdeckt an der Greifswalder Straße.

VIELFALT HINTER FASSADEN

Ein spezieller Kiez, ein Mikrokosmos Richtung Weißensee: Grün, sonnig, abwechslungsreich, authentisch familiär, anstrengend. Das sind nur einige der Attribute, die die BewohnerInnen ihrem Quartier geben. Im neuen Band „Kiezstimmen“ sind viele weitere versammelt. Es sind Stimmen von Menschen, die hier leben – teilweise seit Jahrzehnten, teilweise erst seit einigen Jahren, darunter auch der 12jährige Max, der gern die Ratschläge seiner Oma weitergibt: „Mach den Schritt nicht länger als dein Bein ist.“ 

Die vom Stadtteilzentrum am Teutoburger Platz herausgegebene Publikation porträtiert so diesen ganz speziellen Kiez - über die Menschen, die ihn ausmachen. „Von außen kann man schnell den Eindruck gelebter Eintönigkeit gewinnen, aber wir können mit Fug und Recht behaupten: Hinter den Fassaden der Platten, da schlummert die Vielfalt“, so Denise Evers über den Mühlenkiez und das Projekt. Sie leitet seit zwei Jahren das Mobile Stadtteilzentrum im Viertel – eine Außenstelle des Hauptzentrums am Teutoburger Platz gewissermaßen. Es schafft nachbarschaftliche Begegnungsangebote – von Handarbeitswerkstatt über offenen Kaffeeklatsch bis zur Kiezsprechstunde, von Hilfe für Geflüchtete bis zur Begleitung der gesellschaftlichen, planerischen und politischen Entwicklungen im Kiez, „eine der schönsten, aber auch verstecktesten Ecken Prenzlauer Bergs“. 

Eines der jüngsten Projekte: Die „Kiezstimmen. Unterwegs im Mühlenviertel.“, wie der Band offiziell heißt. Ein Jahr lang waren die MacherInnen rund um die Michelangelostraße unterwegs, sprachen mit unzähligen Menschen, luden andere zu Gastbeiträgen. So versammelt der Band nicht nur Stimmen der Menschen, die hier wohnen. Er zeigt auch die vielen Facetten dieses Quartiers: Die Schule, die Grünanlagen, die Kunstwerke und Denkmale beispielsweise. Er ist so eine Einladung, dieses spezielle Quartier zu entdecken. 

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Ein Kiez, porträtiert durch seine Menschen: Der Band „Kiezstimmen“ aus dem Mühlenviertel. Fotos (3): al

GRÜN, KUNST, HISTORIE

Zum Beispiel entlang des Hönower Weges, einem Teil der grünen Berliner Infrastruktur. Vom Märchenbrunnen im Volkspark Friedrichshain kommend, führt er einmal quer durch den Mühlenkiez, durch Hans-Eisler-Straße und Einsteinpark bis zur Kniprodestraße. Oder die Promenade, die als breiter Weg direkt durch das 70er-Jahre-Viertel führt und mit Sitzbänken, Grün und Skulpturen gesäumt ist. Oder die KulturMarktHalle, jenes soziokulturelle Projekt, das in den vergangenen Jahren in einer alten Kaufhalle in der Hans-Eisler-Straße entstand und vieles in einem ist: Kunstort und Arbeitsraum, Nachbarschaftstreff und Wirtschaftsstandort. Wo Theater gespielt wird, ein Repaircafe zum Selbstmachen einlädt, mit Tischtennis, Flohmärkten und Chor. 

Oder die Gedenktafel für Wilhelm Blank, der in der Nazi-Zeit zahlreiche von der Gestapo verfolgte KommunistInnen unterstützte – und dafür im KZ endete. Sein Sohn, der, knapp 100jährig, immer noch im Mühlenkiez lebt, erinnert sich, wie er einst zunächst die damaligen Kleingärten des Quartiers entdeckte: „Ich werde nie vergessen, wie es war, das erste Mal mit meiner Mutter draußen bei Sonnenaufgang im Grünen aufzuwachen.“  

Valentina Sartori ist eine der Aktiven in der Kulturmarkthalle – und sie ist auch eine der ProjektleiterInnen der „Kiezstimmen“. Die Bildende Künstlerin hat unter anderem Interviews geführt, ist mit ihrer Kamera durch den Kiez gestreift: „Wenn mich zu Beginn das Gefühl einer Stadtforscherin begleitete, so ist jetzt der Mühlenkiez mein zweites Zuhause geworden.“

Katharina Fial,  August 2020

Den Band „Kiezstimmen“ gibt es im Stadtteilzentrum am Teutoburger Platz oder unter: mobilesstadtteilzentrum@pfefferwerk.de