JÜDISCHES LEBEN IN PRENZLAUER BERG, TEIL 4

FAMILIE LEWINNEK

Zur Einweihung der Stummen Klingeltafel am Haus Käthe-Niederkirchner-Str. 35 kam mit Martin Schott im Mai 2019 auch ein Gast aus Sydney ins Bötzowviertel. Seine Mutter Gerda Lewinnek wuchs hier auf. Um ihre Familie geht es in diesem 4. Teil unserer Serie.

Zu den ersten und langjährigsten Mietern im Haus von Isidor und Lina Lewy gehörte die Familie Lewinnek. Martin Lewinnek (jüd.) und seine Frau Emma (ev.) lebten dort seit ca. 1912. Beide Kinder Gerda (geb. 1914) und Norbert (geb. 1916) wuchsen hier auf, in gelebter friedlicher Koexistenz beider Religionen.

Martin Moritz Lewinnek wird am 13.8.1891 in Tuchel/Westpreußen geboren. Während viele der späteren jüdischen Hausbewohner erst nach Ende des 1. Weltkriegs aus den nun polnischen Gebieten nach Berlin kommen, zieht Lewinnek schon eher dorthin, verheiratet mit Emma Pauline Kügler, geboren am 24.1.1887 in Liegnitz/Schlesien. Ihre Kinder Gerda und Norbert kommen also in Berlin zur Welt und leben für gut 30 Jahre mit ihren Eltern im Seitenflügel der (1974 umbenannten) Lippehner Straße 35.  

Martin Lewinnek ist in den Adressbüchern ab 1915 zu finden als Kaufmann, Arbeiter, Fleischer, ab 1934 auch als Kutscher. In einem Interview erinnert sich seine Tochter 1983, dass er auf dem Städt. Vieh- und Schlachthof arbeitete. Später als „Pferde-Jude“ bekannt, ist er aber auch Assistent von „Hänschen“ Frömming, einem der bis heute erfolgreichsten Trabrennfahrer. 

Wegen angeblicher „Schiebereien“ und „Schwarzschlachtungen“ wird Lewinnek 1940 denunziert und von der Gestapo am Arbeitsplatz verhaftet, verhört und über mehrere Wochen gefoltert. Den Viehhof darf er nicht mehr betreten, obwohl sein Obermeister ihn nach der Freilassung wieder einstellen will. Vor der Deportation durch seine sogenannte Mischehe mit einer „arischen“ Frau bewahrt, wird er zwangsverpflichtet und „auf den Abriss“ vermittelt, um unter Lebensgefahr Bombenschäden zu beseitigen. 

Am 20.10.1941 stirbt er im Jüd. Krankenhaus 50-jährig als „gebrochener Mann, der nicht mal mehr die Kraft besaß Selbstmord zu begehen“ (so Knut Elstermann im Buch „Gerdas Schweigen“). Sein Grabstein ist noch heute auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee zu finden.


#prenzlauerberg
Groß: Martin und Gerda Lewinnek auf ihrem Balkon zum Hof, links: Gerda und Bully Schott, rechts: Emma Lewinnek mit ihren Kindern Norbert und Gerda, Fotos: Martin Schott, Sydney

Seine Witwe Emma, die als „Kalte Mamsell“ u.a. in der Stadtküche arbeitet, wird in der Folgezeit wiederholt mit beiden Kindern in Sammellagern festgehalten. Da für ihre Verhaftung als Nichtjüdin aber kein Anlass besteht, gelingt es ihr so mehrmals, auch ihre Kinder wieder mit nach Hause zu nehmen. Gerda muss ab 1940 bei IG Farben unter schweren Arbeitsbedingungen Fallschirmseide spinnen, ihre knappe Freizeit verbringt sie mit Heimarbeit als Schneiderin.

Zuletzt werden Gerda und Norbert aber von Ende 1944 bis zum 20.4.1945 im Sammellager Schulstr. 78 inhaftiert, eingesperrt in den Räumen der ehem. Pathologie des Jüd. Krankenhauses, wo sie 1941 ihren toten Vater zuletzt gesehen hatten. Verhört und misshandelt von SS-Lagerleiter Dobberke, zu dessen Ergreifung durch sowjetische Soldaten Gerda kurze Zeit später beitragen sollte.

Ihr gleichaltriger Freund Bully Schott, gelernter Elektromechaniker und als Boxer im Sportverein Makkabi brandenburgischer Landesmeister, wird ab 1939 in Sachsenhausen zu Zwangsarbeit festgehalten und 1942 von dort nach Auschwitz-Monowitz deportiert, wo er zum Aufbau der IG Farben-Werke Buna eingesetzt wird. 1944 gelingt ihm auch mit Gerdas Hilfe, die zur Vorbereitung der Flucht mit dem Zug nach Auschwitz fährt, zu entkommen und in Berlin unterzutauchen. Schon im Juni 1945 heiraten beide im Rathaus Pankow, die religiöse Trauung folgt 1947 nach Gerdas Übertritt zum Judentum.

Ihr Bruder Norbert, von Beruf Kürschner, schreibt 1947 in einem Brief an den nach Amerika emigrierten Bruder von Lina Lewy: „Für uns gibt es nur ein Ziel, so schnell als möglich aus Deutschland auszuwandern, denn in einem Land wo man so viel unerträgliches Leid erleben mußte, kann man nie wieder froh werden, und wenn es uns hier noch so gut ergehen wird.“ Ein Jahr später fliegt er mit seiner Mutter nach Sydney, wo beide bleiben werden.

Gerda folgt ihnen und emigriert 1950 per Schiff ab Genua, gemeinsam mit ihrem Mann Bully und ihrem 20 Monate jungen Sohn Martin. Ihr Startkapital in ein neues Leben geht mit Martins Kinderwagen (in dem das gesamte Bargeld verstaut ist) zunächst auf der Reise verloren, kann aber nach Ankunft glücklicherweise wiedergefunden werden. 

Emma wird 1969 auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt. Gerda stirbt 1993, Bully im Jahr 2000, Norbert 2001.

Auch wenn die Familie Berlin endgültig verlässt, die Erfahrungen ihrer Verfolgung bleiben zeitlebens prägend.

Lucy, die 1983 in Sydney geborene Tochter von Martin Schott, erhält 2020 nach sechsjähriger Wartezeit die deutsche Staatsbürgerschaft.

Simon Lütgemeyer / M. Steinbach

Quelle: www.kaethe35.de