JÜDISCHES LEBEN IN PRENZLAUER BERG, TEIL 7

FLUCHT IN DEN TOD

Zum Abschluss unserer Serie zur jüdischen Geschichte des Hauses Käthe-Niederkirchner-Str. 35 und der dortigen Stummen Klingeltafel geht es hiermit um ein Thema, das unmittelbar mit den 1941-43 erfolgten Deportationen und allen Schritten der Entrechtung in den Jahren zuvor verbunden ist: Selbstmord der betroffenen Verfolgten, für viele ein letzter selbstbestimmter Ausweg vor den erzwungenen „Evakuierungen in den Osten“.

Stolpersteine umschreiben es als „FLUCHT IN DEN TOD“. Ähnlich liest sich auf der Klingeltafel „Ermordet und in Tod und Emigration getrieben“. Von den 83 ehemaligen jüdischen Bewohnern, deren Namen auf der Tafel zu finden sind, wurden 65 deportiert und ermordet. Acht konnten ins Ausland flüchten, vier starben wohl eines natürlichen Todes, ein Schicksal blieb ungeklärt. Fünf Bewohner des Hauses begingen 1942 vor ihrer Deportation Selbstmord: Die Schwestern Hulda (51) und Margarete (44) Glasfeld, das Ehepaar Rita (34) und Edwin (36) Löwenberg sowie der Apotheker Cäsar Loewinsohn (64).

Alle finden ihre letzte Ruhe auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee. Für Cäsar Loewinsohn wird kein Grabstein aufgestellt, an die übrigen vier erinnern heute sogenannte Kriegsgrabsteine (1999 bzw. 2001 mit Senatsmitteln von der Kriegsgräberfürsorge initiiert). Diese einheitlich gestalteten Steine führen die Namen sowie Geburts- und Todesdaten auf und schließen mit dem Kürzel .ת.נ.צ.ב.ה für den Segenswunsch „Seine/Ihre Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens!“ Zum Zeitpunkt der Recherchen zum Haus 2018 waren diese Steine unter einer dichten Efeuschicht verborgen.

Es wird davon ausgegangen, dass allein auf diesem Friedhof 1.650 Menschen liegen, die Suizid begingen, um Gewaltherrschaft, Deportation und Vernichtung zu entgehen. Allein 1942 wurden 823 Menschen mit dem Vermerk „Freitod“ bestattet, die Dunkelziffer dürfte höher sein.


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Notiz aus der Akte der Vermögensverwertungsstelle, Quelle: www.kaethe35.de

 

Regine Buchheim schrieb über Bianka Hamburger: „Sie nahm einen Tag vor ihrer anstehenden Deportation eine lebensgefährliche Dosis Schlaftabletten. Am nächsten Tag wurde sie halbtot ins Jüdische Krankenhaus in Wedding eingeliefert – zur Wiederbelebung, so lautete die Anweisung der Täter an die Ärzte. Der Verkauf des Schlafmittels Veronal an Juden stand unter Strafe, ebenso jeder Selbstmordversuch. Alle, die die „Flucht in den Tod“ vor der anstehenden Deportation versuchten, sollten noch in die Züge gen Osten steigen und daher zumindest transportfähig gemacht werden.“

Hulda Glasfeld und ihre Schwester Margarete, geb. am 4.5.1890 bzw. 21.4.1897 in Pogutken bei Danzig, sind vor 1940 in die Lippehner Str. 35 gezogen, in den Telefonbüchern bis 1942 als „Glasbach, H, Näherin“ zu finden.

In der wenige Schritte entfernten Barnimstraße im dortigen Frauengefängnis (1864-1974, Fläche heute Verkehrsübungsplatz) waren Hulda und Margarete Glasfeld Ende 1941 über vier Monate wegen „Devisenvergehen“ inhaftiert. Während der Zeit des Nationalsozialismus diente das Gefängnis als Untersuchungshaftanstalt der Gestapo und als Zwischenstation zur Hinrichtungsstätte Plötzensee oder in andere Haftanstalten und Lager. Auch Liselotte Herrmann war hier inhaftiert, zuvor verbüßte Rosa Luxemburg hier Gefängnisstrafen.

Ein im Landesarchiv erhaltenes Verhandlungsprotokoll vom 31.5.1940 lässt Hulda Glasfeld sprechen:

„Ich bin als Hosenstepperin bei der Firma Heinrich Müller, Berlin, Dircksenstr. 38 tätig. Mein wöchentliches Einkommen beläuft sich auf ungefähr 11 bis 20 RM. Ich wohne mit meiner Schwester Frl. Margarete Sara Glasfeld zusammen. […] Ungefähr im Februar oder März 1940 erzählte mir Frau Schönfeld, dass Karger in der Lage sei, für Reichsmarkbeträge Geldbeträge in ausländischer Valuta im Ausland zur Verfügung zu stellen. Nachdem ich dieses erfahren hatte, begab ich mich zu Karger in die Wohnung (Anm.: Lippehner Str. 12) und fragte ihn, ob eine solche Möglichkeit bestehe. Karger erklärte mir, dass er dieses machen könne. An demselben Tage übergab ich ihm 2.300 RM und sollten mir dafür 125 oder 127 USA Dollar in Schanghai zur Verfügung gestellt werden. Ich sagte Herrn Karger, dass die 125 oder 127 Dollar an die Adresse des Herrn Max Schönfeld, Schanghai, gesandt werden sollten. Frau Schönfeld ist ungefähr Mitte März 1940 nach Schanghai ausgewandert. Ich habe ihr vorher noch gesagt, dass mir durch Karger 125 oder 127 Dollar an die Adresse ihres Ehemannes überwiesen werden und sollte sie den Betrag für uns dann aufbewahren. Ich wollte diesen Betrag evtl. als Vorzeigegeld benutzen, weil ich so schnell wie möglich auswandern möchte. Ich habe noch keinen Bescheid darüber erhalten, ob der Betrag an Schönfeld für mich überwiesen worden ist. […] Wir wollen aber gerne auswandern und haben im Ausland keine Verwandte, die uns finanziell unterstützen können.“


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Außenansicht Frauengefängnis Barnimstraße um 1930 Quelle: www.barnimstrasse.de / Landesarchiv

Im Urteil des Landgerichts vom 14.12.1940 heißt es u.a.: „Beide sind in Pogutken, Kreis Berent geboren, wo sie die Volksschule besuchten. Anschließend erlernten sie den Beruf einer Putzmacherin. Als ihre Heimat unter polnische Herrschaft geriet, optierten sie 1920 für Deutschland und wurden darauf 1925 ausgewiesen. Sie zogen nach Berlin, wo sie sich als Näherinnen durchs Leben schlagen.“

Die von Konsulent Berl Coper (Bruder der Hausbewohnerin Rosa Flachs) am 27.1.1941 eingelegte Revision wird „im Namen des Deutschen Volkes“ verworfen und die Schwestern vom 16.9.1941-22.1.1942 im Frauengefängnis Barnimstraße inhaftiert.

Ihre Namen sind bereits auf einer Liste zum 13.OT ins Warschauer Ghetto am 14.4.1942 zu finden, doch für die Schwestern Glasfeld vermerkt die Sterbeurkunde des Standesamts Prenzlauer Berg zum 27.3. "Tod durch Vergiftung". Sie werden am 12.4. beigesetzt, nach Anmeldung durch die Verwandte Elli Misch (Elbinger Str. 58, heute Danziger Str. 119-121 Ecke Greifswalder Str. - mit Mann Berthold in 14.OT deportiert am 2.6.1942).

Der Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg quittiert als "Richtig erhalten" im Mai 1942 den Empfang folgender Wertsachen der Geschwister: "410,-RM, 1 Herrentaschenuhr Silber 800 gestempelt, 2 Trauringe Gelbmetall, 1 Brille mit Futteral. Die oben Genannten haben kurz vor ihrer Evakuierung Selbstmord verübt."

Im August beklagt sich Tischlermeister Gottfr. P. Noack (Möbelfachgeschäft Greifswalder Str. 209) beim Oberfinanzpräsidium, dass die für 1.086,40 RM gekauften Möbel der „evakuierten“ Wohnung (79 vom beauftragten Schätzer der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel penibel aufgeführte Posten) bereits durch einen anderen Händler (Dingeldahl, Schönhauser Allee 174) abholt worden seien.

 


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Grabsteine der Schwestern Glasfeld auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee Foto: Simon Lütgemeyer

Cäsar Loewinsohn, geb. am 19.5.1878 in Berlin, ab 1919 mit Gertrud Moses verheiratet und bis 1936 Besitzer der Pangritz-Apotheke in Elbing, lebt im Haus bei Fam. Gutkind. Er soll mit dem 18. OT am 15.8.1942 nach Riga deportiert werden und befindet sich bereits im Sammellager Levetzowstraße, wo er offenbar dafür sorgt, in Berlin zu bleiben - er stirbt am gleichen Tag im Jüd. Krankenhaus, offiziell an Darmverschluss und Herzschwäche. Fam. Gutkind wird 1943 in Auschwitz ermordet.

Rita Goldstein (geb. 8.3.1908) und Edwin Löwenberg (geb. 31.1.1906), beide in Berlin geboren und seit 1937 verheiratet, leben im Haus bei Fam. Samter, VH 1.OG. Ritas Eltern Betty und Eugen Goldstein flüchten nach Caracas/Venezuela, während Edwins Eltern Selma und Alex Löwenberg im Ghetto Litzmannstadt sterben. Das Ehepaar Löwenberg begeht laut Sterbeurkunde am 16.10.1942 "Selbstmord durch Erhängen" im Haus. Die Beisetzung am 25.10. wird vom Schwager Hans Joachim Baer, Christburger Str. 48 angemeldet - an diesem „Judenhaus“ ist heute auch eine Gedenktafel zu finden. Fam. Samter wird ebenfalls 1943 nach Auschwitz deportiert.

Simon Lütgemeyer / M. Steinbach

Quelle: www.kaethe35.de

 

Sollten Sie Suizidgedanken haben, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge: www.telefonseelsorge.de oder kostenlose Hotline 0800-1110111.