Die Kieze in Mauerreichweite galten als Stadtrand

Schivelbeiner Straße
Schivelbeiner Straße

… noch ein kleiner Nachschlag zum „Diplomaten­viertel“ in meinem Artikel vom letzten Monat: vor meinem dazu angekündigten kleinen Kiezspaziergang (Termine siehe immer unten) wollte ich nochmal im Internet etwas zu diesem Viertel recherchieren. Aber kurioserweise lande ich bei meinen Recherchen immer nur bei meinen eigenen Artikeln. Dennoch ein paar Informationen nach­träglich: Der Name „Diplo­ma­ten­vier­tel“ ist eine schöpferische Erfin­dung des Volksmundes, intern sprach man früher bei den Anwoh­nern der Gegend eher von „den Botschaften An der Esplanade“.

 

Jenes Viertel wurde ab ca. 1972 bebaut, davor gab es mei­nes Wis­sens nach dort nur Klein­gär­ten, deren Reste sich an der Ibsen-/Björnsonstraße mit der „Klein­gar­ten­kolonie Bornholm 1 + 2“ befinden. Die Häuser wurden in nor-­­ mierter Plat­ten­­bauweise errichtet. Die Esplanade stellte bis zur Grün­dung von „Groß-Berlin“ in den 1920er-Jahren die Berliner Stadt­grenze dar.

An der Ecke Schivelbeiner/See­lo­wer Straße (in der Seelower findet übrigens jeden Samstag 10 bis 15 Uhr ein kleiner Bauernmarkt statt) ist ein REWE in einer ehemaligen Kon­sum-Kaufhalle untergekommen.

Schon zu Beginn der letzten Wäh­rungs­union, am 1. Juli 1990, über­­­nahm KAISERs – zunächst als Joint Ven­ture – die staatliche Ost-Berliner Han­delsorganisation HO (außer im einstigen Stadtbezirk Pan­kow) und auch den Betreiber der Inter­shops, die „Forum-Handels­gesellschaft“. Die Konsum-Genossenschaft der DDR betrieb ihre Kaufhallen erst in alleiniger Regie weiter, bevor sie sich nach und nach auflöste.

Ein interessantes Phänomen dieser „Konsum-Kultur“ waren die so genannten „Delikat-Erzeugnisse“: Le­bens- und Genussmittel, die zwar auch landesweite Einheitspreise hatten, aber nicht staatlich gestützt waren und dementsprechend um vieles teurer als die Grundnahrungsmittel.

Beruflich komme ich ja aus diesem Einzelhandel. Im Eingangsbereich dieser Märkte, dort wo heute meist die Einkaufswagen stehen und bei KAISERs und Edeka die Backshops sind, war damals der intern nur „Tabakstand“ genannte Verkauf. In allen „Kaufhallen“ gab es dieses extra abgeschlossene Büdchen, meist mit kleinem, separatem Lager dahinter. Dort wurde der Kunde von der Verkäuferin bedient! Das war dann meist die „Erste Kassiererin“. Dieser Posten war bei den Mitarbeiterinnen immer sehr beliebt, weil man „sein Ding“ machen konnte und ansonsten in Ruhe gelassen wurde.

Neben Tabakwaren wurde dort vor allem Kaffee verkauft. 125 Gramm kosteten, je nach Sorte, zwischen 8,75 Mark („Mocca-Fix“) und 10,00 Mark („Rondo-Melange ganze Bohne“). Zusätzlich gab es dort auch einige der erwähnten „Delikat-Erzeugnisse“, meist Spirituosen. Immer einen Tag vor Heiligabend, am 23. Dezember, erhielten wir – quasi als Überraschung auch für uns Mitarbeiter – eine Lieferzuteilung von Westschokolade-Weihnachtsmännern (meist der Marke „Brandt“) zu horrenden Preisen – die wurden vorher von der staatlichen Plankommission DDR-weit festgelegt und über diese Tabakstände verkauft. 

Schönhauser Allee
Schönhauser Allee

Wie erwähnt, galten alle Kieze in Mauerreichweite schon als Stadtrand. Der Unterschied damals hätte kaum größer sein können: in der Schönhauser Allee wuselte der Verkehr auf Straße, S- und U-Bahn; bog man jedoch in die Schivelbeiner oder die Gleimstraße ein, bekam man von den Verkehrswogen vielleicht noch bis zur nächsten Querstraße etwas mit, aber dahinter war dann Ruhe.

Dieser Trubel in der Schönhauser herrschte aber nur in der Woche. Spätestens samstags ab 11.30 Uhr, wenn die Geschäfte schlossen wurden und die Kinder aus der Schule kamen (bis März 1989/1990 galt nämlich der Sonnabend als regulärer Schultag!) erstarb das Leben, ganz besonders im Sommer, auch auf den Hauptstraßen und eine große Stille legte sich über die ganze Stadt.

Hinter der Lieferanteneinfahrt der Schönhauser AlleeArcaden, in der Wichertstraße, wird seit Monaten mächtig gebaut. Anwohner nutzten die einstige Brache jahrelang als Auslauf für ihre Hunde. Um die Ecke ­– in der Stahlheimer Straße zur Ringbahn hin – wurde vor einer Weile das Opel-Servive-Cen­ter durch einen Discoun­ter ersetzt, der in direkter Kon­kurrenz zum alten KAISERs steht. Und natürlich wurde dazu gleich ein „schöner“ großer Kunden­parkplatz mit angelegt. Wir haben ja überhaupt nicht den nächsten Discounter in Sicht­weite! Große Kundenpark­plätze assoziieren wohl: hier ist Ihr Auto willkommen! Aber ist das eigene Auto, bei den heutigen Benzinpreisen und allen Preisen drum herum, überhaupt noch en vogue? Man sollte doch statt der Parkplätze lieber kleine Parkanlagen neben diesen Discountern anlegen, in denen man sich im Sommer mit einem Eis in ein schattiges Plätzchen unter Bäumen setzen kann. 

Auf der anderen Seite der Pappelallee wird auch gerade gebaut. Die große Kriegs­lücke, in der nur noch die Musikschule steht, wird gefüllt. Auch der Humann­platz ein Stück weiter wird derzeit in Teilen umgestaltet. Die Arbeiten ruhten jedoch im Winter. 

Überhaupt wird seit vielen Monaten in der Gegend mächtig gearbeitet. Vattenfall verlegt im „Tunnel­vor­schub­ver­fahren“ Fernwärmeleitungen in der Star­gar­der. Das gesamte Gebiet rund um Helm­holtzplatz und Gethsemanekirche leidet darunter, und vermutlich sind wir beim Ausfahren der Zeitung nicht die einzigen, die von der dortigen Verkehrssituation genervt sind. 

Ab Ende März wird der Ostring der S-Bahn von Schönhauser Allee bis Neukölln vom Verkehr abgekoppelt, ab Mitte April fährt parallel dazu für ca. zehn Tage auch die U2 nicht. Die armen Anwohner! - … denn dann kommt zum normalen Straßenverkehr auch noch der Ersatzverkehr der Busse hinzu.

Rolf Gänsrich (März 2012)