Nord-Schönhauser: Schlagerorgeln auf Hinterhöfen

Zeitschrift Prenzlauer Berg Magazin Schönhauser Allee
Das ehemalige italienische Viertel ist heute die Wohnbaugenossenschaft "Bremer Höhe"

Mich hatte jemand angerufen und geklagt: „Du, am S-Bhf. Schönhauser Allee vertreiben sie die Mieter!“
Ich klemmte mich dahinter und erfuhr Folgendes: Der Berliner Senat fördert Neubauwohnungen nach ihrer Errichtung noch zehn bis fünfzehn Jahre. Danach werden auch die Sozialwohnungen auf dem freien Markt angeboten. Der Senat bewegt sich gewissermaßen in einem Hamsterrad und ist so gezwungen, ständig Neubauten mit neuen Sozialwohnungen zu errichten. So erzählte man mir.
Im konkreten Fall der Greifenhagener 48, 48a und 48b würden durch den Wegfall der Senatsförderung die Mieten um durchschnittlich fünfzig bis sechzig Prozent steigen. Kein Jobcenter bezahlt aber solche Summen! In der Folge werden Altmieter massiv verdrängt. Deutschlandweit fehlen mindestens eine viertel Million Sozialwohnungen, so der deutsche Mieterbund.


Ein weiteres Problem stellen die „wilden Ferien­wohnungen“ dar, wie mir bei Führungen durch den Gleimkiez immer wieder berichtet wird. Kein Mensch im Pankower Bezirksparlament weiß genau, wie viele es davon annähernd gibt, denn kaum eine davon ist offiziell angemeldet, aber es sind wohl sehr viele. So viele, dass normale Lebens­mittel­händler um ihre Existenz bangen oder bereits aufgegeben haben.
Im Gegensatz zu bergigen Regionen, wo feste Ge­bäude aus dort geschlagenem Stein errichtet wurden, findet man im norddeutschen Flachland überwiegend Ziegelbauten. Steine, die man auf den Äckern fand, wurden meist zu Wallanlagen und Stadtmauern verbaut – siehe die Reste der Berliner Stadtmauer in der Littenstraße in Mitte oder die Stadtmauer von Bernau, nördlich Berlins.
Aus diesem Grunde findet man bei uns im Flachland viel, viel mehr Gebäude aus Backstein oder Ziegeln. Einfache Mauerziegel können bei nur 900°C gebrannt werden, müssen aber wegen der besseren Wetter­fes­tig­keit anschließend verputzt werden. Tonziegel werden bei etwas höheren Temperaturen gebrannt und sind etwas beständiger, aber auch sie sollten verputzt werden. „Klinker“ sind bei 1200°C gebrannt, nehmen deshalb weniger Wasser auf und sind wetter- und frostbeständiger, weshalb man sie für Außenfassaden nimmt.
Nun sind Lehm und Ton von der Farbe her meist gelb. Wie kommt es nun, dass es auch rote Ziegel gibt, wie wir ja an unserem Berliner Rathaus so schön erkennen können? Die Klasse 5c der Grundschule an der Marie gab mir bei meiner Führung mit ihnen Ende November die richtige Antwort: „Vielleicht rosten sie?“
Gar nicht mal so falsch. Durch Zugabe von Eisen(III)-Silikaten oxidieren, rosten, sie. So bekommt man den roten Farbton hin. Mehr Kalk macht die Ziegel dagegen gelber.

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Grundschule in der Greifenhagener Straße

Zu Häusern gehören Fenster und gern auch Jalousien. Diese gab es einst bei Castorf, Pappelallee Ecke Stargarder Straße. Mein Großvater, der in der Pappel­allee 62 wohnte, war schon vor dem Krieg Bauleiter und vergab bereits in jener Zeit den einen oder anderen Auftrag an Castorf. Der große, übersichtliche Eckladen schloss bereits vor zehn Jahren, weil die Gewerbemiete zu hoch war, und zog in einen schmalen „Behelfsverkauf“ in die Pappelallee um. Bei Cas­torf gab es alles, die passenden Jalousien mit entsprechenden Schrauben und Zubehör und dazu immer die beste Beratung. Was mal nicht passte, wurde passend gemacht. Das „Gentleman's Agreement“ zwischen Castorf und seinem Vermieter, das vorsah, die Miete aus den Umsatz schwachen Wintermonaten im Sommer nach zu zahlen, galt plötzlich nicht mehr und so schloss Werner Castorf (geboren 1922) am 8. Mai diesen Jahres sein Geschäft und überlebte es gerade um ein halbes Jahr. Am 14.12.2012 stand sein Nach­ruf im Tagesspiegel.
An einem Samstag stand plötzlich einer der letzten Leierkästenmänner am S-Bhf. Schönhauser Allee vor mir. „Leute, die ihr Geld im Handumdrehen verdienen.“, wie mein Vater immer zu sagen pflegte.
Die Gegend um den S-Bahnhof war einstmals ein Zentrum der Drehorgelbauer. Giovanni Battista Baci­ga­lupo gründete im Prenzlauer Berg sein Fami­lien­imperium, das zwischen 1891 und 1975 „Leierkästen“ produzierte und in die ganze Welt auslieferte. Der Italiener hatte schon mit zehn Jahren er seine Heimat verlassen und ließ sich 1873 in Berlin nieder, wo er zunächst Teilhaber der Firma „Frati & Co.“ in der Buchholzer Straße 1 wurde.

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Auch die ehemalige Groterjahn-Brauerei ist aus rotem Ziegel erbaut

Ab 1891 gründeten er und seine Nachkommen mit wechselnden Teilhabern eine Nachfolgefirma nach der anderen, sie hießen „Cocchi, Bacigalupo & Graffigna“, „G. Bacigalupo“, „Bacigalupo & Co.“ oder „Bacigalupo Söhne“. In der einstigen italienischen Kolonie zwischen Schönhauser Allee, Buchholzer Straße und Pappelallee produzierten sie die Drehorgeln. Bis 1975 existierte das Unternehmen noch an den Firmensitzen in der Schönhauser Allee 74a und 79. Dort stehen heute die Schönhauser Allee Arcaden.
In den Zeiten, als die Mietskasernen vor Einwohnern barsten und Detektorradioempfänger, sofern es sie schon gab, selbst in der Beletage noch reiner Luxus waren, waren die Leierkastenmänner, häufig Kriegs­invaliden, die einzigen, die auf den weitgehend lichtlosen Hinterhöfen für ein paar Minuten Abwechslung sorgten. „Muttern der Mann mit den Koks ist da ...“, „Im Grunewald ist Holzauktion“ oder das „Bolle-Lied“ waren die Hits und wurden durch in Zeitungspapier gewickelte Pfennige, Groschen und „Sechser“, die dem Leierkastenmann aus den Fenstern hinunter geworfen wurden, vergolten.
✒ Rolf Gänsrich (Jan 2013)