PRENZLAUER BERG IM FRÜHSOMMER 2020

Die neue Realität

Der Mai des gelockerten Lockdowns liegt hinter uns. Ein Sommer vor uns, den die Berliner Corona-Ampel regulieren wird. War da was? Was kommt noch? Je nach Mentalität richtet sich der Blick bang oder zuversichtlich in die Welt. Hygiene-Demos, Restaurant-Besuche mit Distanz und vergessene Kinder gehören zu dieser neuen Realität.

Es ist einer dieser bewegenden Momente Anfang Mai in Prenzlauer Berg. Von einem Balkon im zweiten Stock im Bötzow-Kiez klingt Samstagabend Live-Musik. Und unten, auf der Straße, stehen die Menschen im Anderthalb-Meter-Abstand und hören zu. Mit Bierflaschen oder Aperol Spritz in Einwegbechern. Es ist die Zeit, da die Restaurants noch nicht wieder geöffnet haben – und Speisen und Getränke to go anbieten. Unten, auf der Straße, machen es sich die Menschen in kleinen Gruppen schön. Die Jazz-Klänge ziehen weitere PassantInnen an. Oben, auf dem Balkon, musizieren zwei Menschen, die nur zu sehen sind, wenn sie sich zum Applaus über die Brüstung beugen. Der ist, angesichts der wenigen Menschen unten auf der Straße, euphorisch wie bei einem Konzert der Rolling Stones in der Waldbühne. Und er ist, auf wundersame Weise, ein Beleg dafür, wie hoffnungsgebend und sinnstiftend Musik sein kann. Selbst einige wenige Jazz-Lieder in der späten Frühlingssonne.

#Spielplätze #PrenzlauerBerg
Im Mai öffneten die Spielplätze wieder – begrenzt für eine gewisse Anzahl von Kindern. Doch wie sollen spielende Kinder Abstand halten?

DAS NEUE TEMPO

„Willkommen zurück!“, „Sitzen wieder möglich.“. „Bitte warten Sie draußen, bis wir Sie hereinholen.“ Der Mai bringt uns Öffnungen, ein Stück Normalität zurück. Es ist eine neue Normalität. Mit Abstand und Masken, mit strikten Terminvergaben bei Friseuren, in Massagestudios, Restaurants. Sie alle öffnen im Mai wieder, vorsichtig zunächst. Kein Kaffee oder Begrüßungsgebäck bei den FriseurInnen, die sich nach acht Wochen Schließzeit vor Anfragen nicht retten können. KellnerInnen mit Masken bedienen Gäste ohne Maske. Anwesenheitslisten in den Restaurants, denen die Abstandsregel Platzkapazitäten nimmt. Je nach Lage und Beschaffenheit zwischen 20 und 50 Prozent. Polizei und Ordnungsamt patrouillieren und kontrollieren das Einhalten der Hygiene-Regeln. 

Alles dauert länger. Das Einkaufen mit Maske, das in der Warteschlange vor den Läden beginnt. Überall Schilder wie „Bitte nur maximal zwei Personen im Laden.“ Amtliche Angelegenheiten brauchen noch mehr Zeit, weil auch das Bezirksamt erst allmählich wieder hochfährt. Und irgendwann, so kurz vor Pfingsten, verlieren wir im Gewirr der Kontaktbeschränkungs-Aussagen der Bundes- und Landespolitik den Überblick, was eigentlich möglich ist, was nicht. Jedes Bundesland, jeder Berliner Stadtbezirk regelt diese neue Realität auf seine Weise. Dann kommt das sonnige Pfingstwochenende, an dem die Prenzlauer Berger endlich wieder an die Ostsee dürfen und lässt die Berliner Enge für ein paar Stunden vergessen.

#Cafés #PrenzlauerBerg
Im Mai öffneten Cafes und Restaurants wieder – mit Abstand.

DIE ZWEI REALITÄTEN

„War da was?“ fragt SPIEGEL-Autor Markus Feldenkirchen in einem Essay Ende Mai. Der in Prenzlauer Berg lebende Journalist beschreibt ein Umfeld und einen Alltag, in dem die Pandemie keine Rolle mehr zu spielen scheint. Gefüllte Straßen und drängelnde KundInnen in den Supermärkten; Menschen ohne Maske in der Bahn. Er, der sich an die Abstandsregeln hält, fühlt sich als „Corona-Spießer“. Einmal mehr zeigt sich im Mai, dass Berlin eben aus vielen Städten besteht mit jeweils eigener Mentalität. In den dichtbesiedelten, individuellen Innenstadt-Bezirken sind die Regeln Ansichtssache. Weiter draußen, wo mehr Platz ist, gehen sich die Menschen auch mit Maske aus dem Weg. Und am Pfingstwochenende finden die sogenannten Hygiene-Demos im Mauerpark statt. „Sonst ist hier sonntags ein euphorisches Gefühl“, sagt Alexander Puell von den „Freunden des Mauerparks“, der diese Demos mit Sorge betrachtet. „Die Leute machen was miteinander, tanzen, lachen. Heute ist es hier wie Kampf“. Die Hygiene-Demos und die Gegen-Aktionen wie „Wir sind nicht Eure Bühne“ zeigen vielleicht am deutlichsten, wie gespalten die Gesellschaft inzwischen ist. Die gleiche Gesellschaft, die vor zehn Wochen noch ein solidarisches Wir-Gefühl applaudierte.

#Reisebüro #PrenzlauerBerg
Gehören wie Clubs, Fitness-Studios und Theater zu denen, die noch weiter auf Öffnung warten: Reisebüros. Fotos (3): al

DIE UNVORSTELLBARE DISTANZ

Vor den Grundschulen stehen vormittags wartende Eltern, auf Distanz zueinander. Für ein paar Stunden pro Woche dürfen die Kinder wieder in die Schule, auch in die Kitas. Neue Normalität auch für die Jüngsten, die eigentlich weiter eine Ausnahme ist – mindestens bis zu den Sommerferien Ende Juni. Wie oft die Kinder in die Schule können, wie oft sie Home-Scooling haben, entscheidet jede Schule aufgrund ihrer Infrastruktur. Zumindest die Hortbetreuung für GrundschülerInnen in den Sommerferien soll weitestgehend normal werden.

Die Kinder. Sie gehören mit Abstand zu den VerliererInnen dieser Pandemie. Verstehen nicht, was eigentlich geschieht. Nur, dass sie wochenlang keine FreundInnen treffen durften, nicht auf die Spielplätze, nicht in ihre Freizeiteinrichtungen. PsychologInnen nennen sie bereits die „Generation Corona“.  Im Mai konnten sie wieder auf die Spielplätze – mit Abstand. Und auch die Jugendfarm Moritzhof und der Abenteuerspielplatz Kolle37 öffneten wieder. Für kleine Gruppen, nur draußen, mit Maske. Das Machmit!Museum bleibt noch geschlossen, verkauft Soli-T-Shirts für seinen Erhalt und bloggt Spielangebote auf seiner Homepage.   

Die neue Realität in Prenzlauer Berg seit Mai, die sich über den Juni und möglicherweise noch länger ziehen wird. Und je nach Mentalität fürchten die einen den zweiten Lockdown, hoffen die anderen auf den ganzen, stinknormalen Alltag. „Wir vermissen Euch“, plakatiert das Theater O.N., das wie alle anderen Spielstätten noch geschlossen bleiben muss.   

Vor einer Kita liegen bunt bemalte Steine, eine Kette der Verbundenheit. „Bitte liegenlassen und selbst einen Stein  dazulegen“, haben die ErzieherInnen dazu geschrieben. Und noch immer, auch Ende Mai, wird die Stein-Kette Stück für Stück länger.

Katharina Fial,  Juni 2020