KOLLWITZ-KIEZ

Die verlorenen Lampions

Kleines Weltlokal, Refugium der Verlorenen. Jutta Voigt nimmt den „Lampion“ in der Knaackstraße zum Ausgangspunkt ihrer Beschreibungen der Ost-Boheme. Auf wenigen Quadratmetern drängten sich dort die großen Lebensentwürfe. Eine literarische Erinnerung.

Manchmal gibt es diese Fundstücke, die daran erinnern, in welch rasend schneller Zeit wir leben. Die dann innehalten lassen. Eines dieser Fundstücke ist das Buch von Jutta Voigt. Es beginnt in der Knaackstraße 54, nicht weit von der Kreuzung zur Wörtherstraße am Kollwitzplatz. In „Stierblut-Jahre“ beschreibt diese große alte Feuilletonistin die „Boheme des Ostens“. Boheme, noch so ein von der Zeit überrolltes Wort. Und Boheme und Osten, also Ost-Berlin in den 50er bis 90er Jahren, das mag noch weniger zusammenpassen.

In der Knaackstraße 54 passte es zusammen – auch, als es die DDR schon einige Jahre nicht mehr gab. „Der Lampion, die Resterampe der Ostboheme, ist eine Legende“, schreibt Jutta Voigt im Jahr 2018. Da war dieses Künstlerlokal schon 15 Jahre lang Legende. Dort „trafen sich die per Revolution versprengten Reste der östlichen Boheme, sie suchten Schutz vor den Zumutungen der neuen Zeit, wo sie doch mit der alten noch nicht fertig waren.“ Der Lampion existierte von 1991 bis 2003. Dann war auch er fertig. 

#prenzlauerberg
Was war die Boheme in Prenzlauer Berg, in Ost-Berlin? Jutta Voigt beschreibt eine Epoche. Repro: Aufbau Verlag

SEIDENSCHIRME UND SOLEIER

Eine winzig kleine Kneipe im Hochparterre, 25 Quadratmeter Raum für die großen Lebensentwürfe, Ideale, Utopien. Für die Sehnsüchte nach einem anderen Leben. Die nun andernorts keinen Platz mehr hatten. Ein von Seidenlampions durchschienener Ort. Soleier auf dem Tresen, Holzstühle und -tische, Porträts und Grafiken an den Wänden. Geöffnet bis in den Morgen, viel Stammkundschaft, kaum Laufpublikum. „Wer hier sitzt und redet, gibt damit zu erkennen, dass ihm all die entfremdeten, korrumpierenden Mechanismen der karrieristischen Angestellten-Existenz nichts anhaben können“, lässt Voigt einen Stammgast zu Wort kommen. Darin steckt beides: Weltschmerz und Selbstironie.

Die großen Dichter:innen und Filmleute disputierten hier mit denen, die von Berühmtheit weiter träumten. Und mittendrin und eigentlich der Inhaber: Der Puppenspieler Klaus Breuing, der seine Kunst kurzerhand für die Bewirtung von Künstler:innen aufgab. „Winzig kleines Wandertheater“ stand noch am Schaufenster, hinter der Kneipe lag die Puppen-Werkstatt.

SELBSTVERWIRKLICHUNG UND SUBKULTUR

Und wie hatte dies alles einmal begonnen? Was kam vor dieser sogenannten Resterampe? Voigt zeichnet, von ihrem Ende im „Lampion“ aus, die Geschichte der ostdeutschen Intellektuellen und Künstler*innen, eben der Boheme, seit den 50er Jahren nach. Spürt Manfred Krug und Wolf Biermann in ihren Anfängen auf, Katharina Thalbach, Katja Müller-Lange. Sie durchstreift die Berliner Mitte um Berliner Ensemble und Chausseestraße, den Prenzlauer Berg zwischen Wiener Cafe und Hirschhof. Mitfühlend, manchmal ironisch, erzählt sie von dieser Sehnsucht nach einem anderen Leben in der DDR. 

Sie durchstreift die Orte und die Jahrzehnte mit ihren Begegnungen jener Menschen, die ein anderes Leben suchten. In den frühen DDR-Jahren mit rebellischem Elitebewusstsein und Aufbruchspathos, zunehmend kritisch und reformerisch in den Siebzigern, distanziert bis gleichgültig in den Achtzigern. Das andere Leben, dessen sie sich oft in Kneipen wie dem „Lampion“ gegenseitig vergewisserten: Oft betrunken, leidenschaftlich bis zum Pathos, immer mit einem Funken Humor und Ironie.

Das Buch endet – wie kann es anders sein – mit Frank Castorf, besser, mit Castorfs Ende als Volksbühnen-Intendant. „Sein Abschied von der Volksbühne ist ein später Abschied der Boheme des Ostens“, schreibt Jutta Voigt. Und dann: „Wenn die Freiheit unendlich ist, kommt die Melancholie.“

Klaus Breuing, der „Lampion“-Kneipenwirt und Puppenspieler, zog 2003 in die Freiheit der Uckermark, in ein winzig kleines Puppentheater. Dort ist er vor wenigen Monaten gestorben.

-al-, März 2022