JÜDISCHES LEBEN IN PRENZLAUER BERG, TEIL 6

FAMILIE GOSSELS

Im Dezember war an dieser Stelle von Isidor und Lina Lewy zu lesen, den langjährigen Eigentümern des Hauses Lippehner Straße 35. Diese Ausgabe widmet sich ihren Töchtern Hildegard und Charlotte sowie den Enkelsöhnen Peter und Werner Gossels. Letztere waren vor drei Jahren mit 10 Familienangehörigen zur Einweihung der Stillen Klingeltafel in der heutigen Käthe-Niederkirchner-Str. 35 aus den USA nach Berlin gekommen.

Isidor Lewy erwirbt 1905 zur Altersvorsorge mit Verkauf seiner Firma für Kinderbekleidung das gerade fertiggestellte Mietshaus im Bötzowviertel. Die Familie lebt zunächst noch am Schleswiger Ufer (Hansaviertel), danach gegenüber der im Bau befindlichen Synagoge in der Levetzowstraße, zieht 1916 aber in das eigene Haus, VH 2.OG rechts.

Am 24.9.1901 kam die erste Tochter Hildegard zur Welt, am 7.9.1903 ihre Schwester Charlotte. Während Hildegard ledig bleibt, heiratet ihre jüngere Schwester 1929 den Richter und Magistratsrat Max Gossels.

Am 11.8.1930 wird ihr erster Sohn (Claus) Peter geboren, am 23.7.1933 der zweite Sohn Werner.

Die junge Familie lebt in der Tile-Wardenberg-Straße, unweit der Levetzowstraße. Der Lehrauftrag von Max Gossels an der HU wird 1933 mit der neuen Gesetzgebung aufgrund seiner jüdischen Herkunft umgehend aufgehoben. Er ist in der Jüdischen Wirtschaftshilfe tätig, schreibt für das Gemeindeblatt und wird 1935/36 im Telefonbuch als Verwalter des Hauses seines Schwiegervaters genannt. 1936 trennen sich Max und Charlotte. Mit Tod ihres Vaters Isidor zieht Charlotte mit beiden Söhnen wieder in die elterliche Wohnung. Ab 1937 geht Peter, dem öffentliche Schulen nun verwehrt bleiben, zur III. Privaten Volksschule der Jüdischen Gemeinde, deren Räume sich im Vorderhaus der Synagoge Rykestraße befinden.  


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Links: Charlotte Gossels; Rechts: Hildegard Lewy; Fotos: Familie Gossels

Während Max 1939 nach Antwerpen flüchtet und nach Internierung in Frankreich 1942 nach Caracas/Venezuela entkommt, bemühen sich Charlotte und ihre Schwester um den Lebensunterhalt der Familie. Lina Lewy muss das Haus 1939 zwangsverkaufen, hat kaum Zugriff auf den geringen Erlös und ist nun Mieterin im bisher eigenen Haus. Charlotte inseriert im Jüdischen Nachrichtenblatt und bietet im zuhause eingerichteten Salon Schönheitspflegedienste an. So gelingt es ihr, genug Geld zu verdienen, um ihren beiden Söhnen die Ausreise in das vorerst sichere Frankreich zu ermöglichen.


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Anzeige im Jüdischen Nachrichtenblatt, Quelle: Leo Baeck Institut

Am 3.7.1939 werden Peter und Werner von ihrer Mutter und Großvater Gottfried, der zwei Jahre später nach Riga deportiert wird, am Potsdamer Bahnhof in Berlin verabschiedet. Mit 37 anderen Kindern gelangen sie nach Quincy bei Paris, mit Einrücken deutscher Truppen etwas später dann nach Chabannes weiter südlich in der unbesetzten Zone. Schließlich können die Brüder dann am 9.9.1941 in Lissabon an Bord des Schiffs „Serpa Pinto“ gehen und sehen 15 Tage später zum ersten Mal die Freiheitsstatue vor New York. 

Sie werden in unterschiedlichen Pflegefamilien aufgenommen, bleiben aber zeitlebens eng verbunden.

Charlotte kann die für ein US-Visum erforderlichen 1.000$ nicht aufbringen und hofft zwischenzeitlich, ihre Söhne wieder zu sich holen zu können. So ist der auch im Haus lebende Egon Heysemann mit den Jungen in Frankreich, kehrt 1941 aber in die Lippehner Straße zurück und wird 1942 mit seiner Familie ins Ghetto Piaski deportiert.

Eine Ausreise in die Schweiz scheint dann möglich, wird aber mit der Deportation ihrer Mutter Lina am 3.10.1942 nach Theresienstadt durch einen Nervenzusammenbruch verhindert. Während Hildegard zuletzt zu Zwangsarbeit im AEG-Kabelwerk Oberspree verpflichtet wird, muss Charlotte bei den DEUTA-Werken Oranienstraße 25 für einen Hungerlohn arbeiten.


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Werner und Peter vermutlich im (Park) Friedrichshain, 1936/37 und 2019 auf dem Balkon ihrer ehem. Wohnung in der Käthe-Niederkirchner-Str. 35, VH 2.OG rechts; Fotos: Familie Gossels

Mit der sogenannten Fabrik-Aktion werden die Schwestern dann um einen Tag getrennt voneinander zunächst in den „Tattersall“ der Rathenower Kaserne in der Feldzeugmeisterstraße gebracht und mit dem 31. und 32. „Osttransport“ vom Güterbahnhof Moabit nach Auschwitz deportiert, wo Hildegard wohl sofort am 2. und Charlotte am 3.3.1943 ermordet werden. Peter und Werner sollten erst 1991 Gewissheit über ihr Schicksal erhalten. 

Die Brüder studieren in Harvard und Yale, beginnen erfolgreiche Karrieren in Wirtschaft und Justiz und gründen eigene Familien. Werner lebt mit seiner Frau Elaine in der Nähe der fünf Kinder in Wayland bei Boston. Peter ist bis kurz vor seinem Tod am 25.10.2019 Teilhaber einer Anwaltskanzlei in Boston sowie Town Moderator in Wayland und hinterlässt seine Frau Nancy und drei Kinder. Ihre Tochter Lisa produziert 1999 den mit einem Emmy Award ausgezeichneten Film „The Children of Chabannes“. Und Peter kann zuletzt noch mit „Letters From Our Mother“ die Briefe von Charlotte Gossels an ihre schmerzlich vermissten Söhne in Buchform veröffentlichen. In ihrem letzten erhaltenen Brief schreibt sie Ende 1941: 

„Nun ist schon bald wieder ein Jahr herum, und wir Drei wollen den festen Willen und die Zuversicht haben, dass wir uns bald wiedersehen werden. Gebt Euch viel Mühe in der Schule und macht Euren Pflegeeltern Freude. Wie ich hörte, sollt Ihr in eine Familie kommen und nicht in ein Heim, aber etwas Genaues weiss ich nicht darüber, und erwarte daher Euren genauen Bescheid. Jedenfalls, wie es auch sei, ob Heim oder Familie, immer gehorchen und fleissig sein! Und immer Einer für den Anderen sorgen, denn Ihr Beide gehört für immer zusammen.“

Simon Lütgemeyer / M. Steinbach

Quelle: www.kaethe35.de