„Ich bin über die Veränderungen glücklich“

Zeitschrift Prenzlauer Berg Magazin

Olaf Forner verkauft seit 16 Jahren nachts Zeitungen. Nun hat er aus seiner Tour einen Kneipenführer erstellt.

 

Zu seiner ersten Lesung kamen 40 Zuhörer. Olaf Forner hat mit seinem literarischen Debüt erreicht, wovon auch etablierte Autoren manchmal nur träumen können. Seit jenem Mittwoch Abend Anfang Juni in Winsens kleiner Kiezkneipe an der Winsstraße 59 ist seine Startauflage von 250 Exemplare bereits vergriffen. Denn Olaf Forner ist im Kiez kein Unbekannter: Seit 16 Jahren preist er nachts in Prenzlauer Berg druckfrische Zeitungen an. „Heute schon gelesen was morgen von gestern ist?“, lautet sein Standardspruch, wenn er eine Kneipe oder ein Restaurant betritt.  Nun hat er aus seiner Tour einen Gastronomie-Führer gemacht: „Mit einem Zeit(ungs)Zeugen on Tour“ heißt die knapp 60-seitige Broschüre, die er im Kopierverfahren hergestellt hat und bei seinen Lesungen anbietet. 

Das Interesse an dem Leben des 45-Jährigen scheint ungebrochen. „Die Resonanz ist extrem. Ich muss den Nerv der Leute getroffen haben“, wundert er sich selbst ein wenig. Fast wöchentlich liest er in einer der Kiezkneipen aus seinen Texten, erzählt aus seinem Leben und zitiert aus journalistischen Artikeln, die andere über ihn geschrieben haben. Die Wochenzeitung „Der Freitag“ widmete ihm vor zwei Jahren eine ganze Seite und der Fernsehsender RTL begleitete ihn für eine Reportage über Menschen, die nachts im Winter arbeiten müssen. 

Forner fühlt sich wohl in seinem Job und bezeichnet sich selbst als Medien-Junkie. An den Beginn dieser Leiden­schaft erinnert er sich genau: „Bereits mit acht Jahren habe ich mir am Kiosk die Berliner Zeitung für 15 Pfennige geholt und dazu einen Streuselkuchen.“ Auch den damaligen Gebäckpreis hat er parat: „Ein Stück gefüllter Streusel­kuchen hat in Ostberlin 28 Pfennige gekostet.“ Später kamen eine Reihe von Magazinen dazu, was für ihn manchmal mit Schlange stehen am Kiosk verbunden gewesen sei, um rare „Bückware“ zu ergattern wie das Jugendmagazin „Neues Leben“, „Wochenpost“ oder „Das Magazin“. 

Überhaupt muss man sich Olaf Forner keineswegs als blassen Bücherwurm vorstellen. Wer ihm das erste Mal begegnet, hält ihn eher für einen Fußball-Ver­rückten, so wie er meist in voller Spie­ler-Kluft auf Zeitungs-Tour geht. Das ist sein Markenzeichen, daher geht es ihm in dem harten Geschäft auch ganz gut. Trotz dem das Union-Trikot inzwischen etwas über seinem Bauch spannt, gibt er noch den Sportler. Fan allein ist er nicht, sondern Aktiver, der bereits drei Stunden vor den Spielen in Köpenick ehrenamtlich Programmhefte an die Ausgabestellen bringt und dafür sorgt, dass Zuschauer schnell zu ihren vorbestellten Karten kommen. Wenn Forner zu seinen abendlichen Touren mit bis zu 100 Zeitungen und Zeitschriften startet, hat er als offizielle mobile Karten­ver­kaufs­stelle des 1.FC Union auch Karten für die Heimspiele dabei. Wer für gefragte Hertha-Spiele noch ein Ticket ergattern will, dem hilft Forner ebenfalls weiter. Wenn andere von der Anzahl Ihrer Facebook-Freunde sprechen, erzählt er von etwa 4000 Menschen, die seine Telefonnummer haben. Das klingt altmodisch, wie auch einige Menschen inzwischen Printmedien für überflüssig halten. 

Aber der Verkäufer verkauft nicht nur, er liest auch das meiste. Und so waren es nicht nur die für ihn schlechteren Vertragsbedingungen bei Boulevard-Blättern, die ihn hin zu Qualitäts­zei­tungen brachten. „Ich bin über diese Veränderung glücklich, weil ich dadurch zur taz gekommen bin“, sagt er und beschreibt, dass sich die als alternativ geltende Tageszeitung seiner Meinung nach zu einer Zeitung für Bürgerbewegungen gewandelt und von den Grünen emanzipiert habe. Dass er nun vor allem die taz anpreist, hat ihm den Spitznamen „taz-Unioner“ eingebracht. Diese Kombi­na­tion ist das Erfolgsrezept, weshalb die 64 Kneipen und Restaurants, die er in seiner Broschüre beschreibt, von ihm Zeitungen für ihre Läden abkaufen und auch mancher Stammgast ihn heranwinkt. Dafür liebt Olaf Forner den Prenz­lauer Berg.

Aus Mitte sind ihm ganz andere Geschichten zu Ohren gekommen, dass bei Touristen beliebte Originale wie „Caruso“, der die aktuellen Schlagzeilen gesungen hat oder „Black“, der Tages­spiegel-Artikel in Reimform ankündigte, Hausverbot bekamen und von der Stammkundschaft beschimpft worden wären. „In Mitte wohnen eher die Ange­ber, da schlägt einem mehr Arroganz entgegen.“

Zwar gäbe es auch in Prenzlauer Berg unter den etwa 400 Lokalitäten welche, die er aus gutem Grund nicht besuchen würde, aber selbst zu Prominenten hätte er ein gutes Verhältnis.

Und noch heute ist sich Forner sicher, dass von ihm in der Trattoria Paparazzi beobachtete Treffen von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine letztlich zur Gründung der Partei „Die Linke“ führten. Ihnen habe er auch schon Zeitungen verkauft. Trittin, Grönemeyer, Illner und Daniel Brühl gehörten ebenso zu seiner Kundschaft. Die „Gentrifizierung“ des Prenzlauer Bergs, die heute in aller Munde ist und meist als Schreckgespenst für den Verlust des alten Flairs des Bezirks gesehen wird, hat Forner selbst miterlebt, seit er sich im September 1996 erstmals auf eine noch kleine Verkaufstour rund um den Kollwitzplatz aufs Fahrrad schwang und 26 Zeitungen für 14 Euro verkauft hat. Er sieht den Wandel jedoch für sich als persönlichen Gewinn: „Ich habe von der Entwicklung profitiert. Durch den Kontakt mit dem veränderten Publikum hat sich auch mein Horizont erweitert. Ich höre jetzt auch Klassik und achte beim Essen auf den Geschmack der Zutaten.“ Er selbst möchte den Zugezogenen etwas geben und klärt sie darüber auf, welcher Ost­berliner Fußballklub damals der Stasi-Verein und welcher der für die unangepassten wie ihn gewesen ist. Und versucht auch den Eulenspiegel stärker den Lesern schmackhafter zu machen, weil er diese Satirezeitschrift für anspruchsvoller als die Titanic hält. Und fühlt sich als Rad im System der Printmedien, wenn er für kleine Wochenzeitungen wie „der Freitag“ neue Vertriebswege erschließt und auch schon einmal zur Blattkritik an den Tisch der Redakteure eingeladen wird. Bei der taz bekam er dafür ein rotes Strandtuch geschenkt. Inzwischen gehört ihm aber noch mehr – seit 2007 ist der Verkäufer Anteils­eig­ner der taz-Genossenschaft.

Dabei ist Olaf Forner keiner, bei dem alles glatt im Leben gelaufen ist. Die Trennung von seiner Frau und die darauf folgende Rolle als zweifacher alleinerziehender Vater gehörten dazu. Nach seiner Kündigung als Elektriker 1995 war er Pa­ket­fahrer und kurz einer der ersten Grill­walker. „Das war nichts für mich, zwei Stunden mit 30 Kilogramm Gewicht am Körper die Hitze zu ertragen. Ich bin ein Nachtmensch und Kälte kann mir nichts anhaben. Wenn ich auf dem Fahrrad sitze und die Eiszapfen hängen mir am Bart, dann fühle ich mich wohl“, sagt er. 

Neben der Arbeit engagiert er sich für Menschen mit Handicap im christlichen Verein „Gemeinschaft der Roller und Latscher“ und hat nach Jahren als ehrenamtlicher Helfer eine Teilzeitstelle als Assistent für einen Rollstuhlfahrer. Der regte ihn zum Schreiben an. „Ich erzähle gern, kann das aber nur immer einem erzählen. Mit dem Schreiben kann ich mehr Menschen gleichzeitig erreichen“, beschreibt er die Faszination am eigenen Wort. Gerade wird sein aktueller Kneipenführer für den späteren Druck redigiert. Als Nächstes plant er einen Union-Kneipenführer. Ein gemeinsames Buchprojekt zur sogenannten Inklusion, welche die Einbeziehung des Assistenten in das Leben eines hilfsbedürftigen Assistenznehmers benennt, schwebt ihm mit seinem Roller-Freund vor. Und dann hat er noch einen weiteren Titel vor, dem er einige Brisanz zutraut und deshalb darüber noch nichts in der Zeitung lesen möchte. „Ich habe Pläne, aber ich weiß nicht, wie es kommt“, blickt Forner zuversichtlich in die Zukunft. „Aber ich denke nicht, dass ich die Zeitungen und den Fußball aufgeben werde. Ein Großteil meines Bekanntenkreises setzt sich daraus zusammen.“

 Jack Rodriguez (Jul 2012)

Lesungen am 9. Juli um 20 Uhr im Amalgam in der Lychener Straße 14, 

16. Juli um 21 Uhr im „5 Ziegen“, Lychener Straße 63, 

22. Juli um 19 Uhr in der „Voodo Lounge in der Käthe-

Niederkirchner Str. 6.