PRENZLAUER BERG IM HERBST 1989 (3)

„Erst danach habe ich begriffen, dass wir eingesperrt waren“

Nachrichten Prenzlauer Berg Zeitung
"die andere" – Unabhängige Zeitung 1990 bis 1991, im Vordergrund: "Die ersten Texte des Neuen Forum 1989 bis 1990"

25 Jahre ist das jetzt schon her. Ein Drittel Lebenszeit. Vor 25 Jahren erhoben sich in der DDR die Menschen, standen auf, in einem Freiheitsdrang, der nicht mehr zu unterdrücken war. Immer lauter werdend im ganzen Land, weit früher schon im Stillen in Prenzlauer Berg. Wie war das eigentlich, damals, im Herbst 1989?

Mit den Erinnerungen ist das so eine Sache. Sie schlummern im Verborgenen und stören im Alltag nicht weiter. Dann, durch einen ganz speziellen Anlass, werden sie wieder lebendig, greifbar wie die Gegenwart. „Am Anfang war die Mauer. Am Ende der Mauer ein Tor. Das Tor wurde nie geöffnet. Das Schloss rostete vor sich hin und niemand kam, um es zu ölen und den passenden Schlüssel zu finden.“, so beginnen die Erinnerungen von Bettina Radandt an den Herbst 1989, aufgeschrieben und vergessen in einem Tagebuch.
Unsere Frage nach Ihren Erinnerungen, liebe Leserinnen und Leser, brachte auch die von Bettina Radandt wieder ans Tageslicht. Das Blättern im Tagebuch folgte, dann ein Gespräch, das die Ereignisse jener Zeit erneut vergegenwärtigte. Mit der Distanz von 25 Lebensjahren.
„Die Mauer trennte zwei Welten, die gute und die schlechte Welt. In der guten Welt gab es alles in Hülle und Fülle. Die Menschen lachten immer froh, sie schlenderten durch die Parks, die Autos hupten fröhlich. Bunt zeigte sich dieser Teil dem Rest der Welt. Auf der anderen Seite der Mauer wohnten auch Menschen. Sie lachten nicht so laut, und im Fernsehen waren oft nur fleißige Arbeiter zu sehen, die 26 Stunden am Tag mit eisernem Willen und versteinertem Blick arbeiteten.“, steht Märchen-gleich in Bettina Radandts Tagebuch. Erinnerungen von damals. Die heute 59jährige war damals Grundschullehrerin, gebürtige Berlinerin, und damit war die Mauer in ihren Alltag integriert. Besonders eindrücklich erinnert sie die S-Bahn-Fahrten nach Pankow entlang der Mauer, den Blick nach drüben, auf Stacheldraht und abgemagerte Schäferhunde der Grenzer, ein beängstigendes Szenario.

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Erinnerungen an einen historischen Tag und ein Fest des Volkes: Aufnahmen aus der Nacht des 9. November 1989, im heutigen Alltag nahezu unbemerkt, auf der Bornholmer Straße. Fotos (3) Michael Steinbach

„Hast du schon gehört? Hast du die Risse schon gesehen, in der Mauer?“, mit dieser Frage begrüßten sie ihre Kolleginnen am 10. November 1989. Genau genommen war es die Putzfrau, genau genommen war es das Wundern darüber, dass kaum Kinder an diesem Tag in der Schule waren, mit dem Bettina Radandts persönlicher Mauerfall begann. Denn von den Ereignissen in der Nacht zuvor hatte sie nichts mitbekommen. Nichts von den Menschenmassen, die sich nach dem berühmten Versprecher von Günter Schabowski, ab sofort könne jeder, der wolle, aus der DDR ausreisen, Richtung Mauer auf den Weg machten. Die immer mehr wurden, als auch das Westfernsehen über die Maueröffnung berichtete, unsicher noch am frühen Abend, mit mehr Gewissheit, je länger der Abend dauerte. Der große, legendäre Tagesthemen-Moderator Hanns Joachim Friedrichs, der in der ARD verkündete: „Dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die Tore in der Mauer stehen weit offen.“, schickte noch mehr von ihnen auf den Weg. Die Bornholmer Straße glich inzwischen einem Volksfest, Gastronomen verkauften Getränke und belegte Brötchen an die wartenden Menschenmassen, die Stimmung war angespannt-ausgelassen, bis da vorn – der Moment hat sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben – bis da vorn der Grenzer Harald Jäger endlich aufmachte.
Bettina Radandt verschlief diese Nacht, wie so viele im Land DDR. „Die Ereignisse auf der Bornholmer Brücke, das ist nicht meine Geschichte“. Ihre Geschichte setzte sich am 11. November fort, an einem Samstag, an der Bernauer Straße.

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Der Grenzübergang auf der Bornholmer Straße war der erste Grenzübergang, der am 9. November 1989 geöffnet wurde. Hier fiel die Mauer. Ein kleines Stück davon steht noch, als Mahnmal.

Am frühen Morgen war sie dabei, als Grenzpolizisten an der Mauer sägten, als schließlich ein Segment aus dem Beton gehoben wurde. Anspannung und Unglaube immer noch: „Wissen Sie, ich war kein Revoluzzer. Ich hätte nie den Mut gehabt, wie die anderen, in die Prager Botschaft zu flüchten“.
Dann, gemeinsam mit einigen Hundert Menschen, am Tag 3 des Mauerfalls, ging sie zum ersten Mal rüber. Vor der Freude kam das Entsetzen: „Erst, als wir hindurchgingen, habe ich begriffen, dass wir vorher eingesperrt waren“, sagt sie. In ihrem Tagebuch steht dazu: „Erst kam die Mauer, dann kam ein Zaun, so hoch wie ein Turm mit Stacheldraht darauf. Dieser zeigte in die Richtung, wo die Menschen mit den nachdenklichen Gesichtern lebten. Dann folgte noch eine Mauer. Dazwischen geharkter Sand, Kies, alles picobello. Kein Dreck, kein Schmutz, kein Papier – nur in Reih und Glied geharkte Flächen.“
Der Schritt über den kleinbürgerlich gepflegten Grenz- und Todesstreifen, ein Gang auch der Erkenntnisse. An seinem Ende die Freiheit, wartende West-Berliner mit Kaffee und Sekt. Der Tagebuch-Eintrag „Die Menschen, die vorher so traurig schauten, sie erblickten den Glanz der großen weiten Welt. Alles verschmolz mit der Freude über das Dabeisein und das Gefühl – wir sind frei!“
Mit den Gefühlen ist das auch so eine Sache. Bleiben im Körper gespeichert, bis bestimmte Momente sie wieder auslösen. Immer, wenn Bettina Radandt an der Bernauer Straße entlanggeht, erlebt sie einen Abglanz dieses befreienden Gefühls. Sie kann es noch immer genießen nach all der Zeit. Gerade ist sie aus einem Zypern-Urlaub zurückgekehrt, vor 25 Jahren wäre das unvorstellbar gewesen. „Dass auch die Kinder in die Welt hinaus gehen können. Und dass man die Bücher lesen kann, die man möchte. Das ist ein Wunder, immer noch.“
Katharina Fial (Nov 2014)

Einmal entlang der Mauer
Mit 70 Jahren macht sich ein Prenzlauer Berger auf Mauer-Wanderung. Claude Lerognon will in drei Tagen das alte West-Berlin umrunden – auf dem Mauerweg, der ca. 160 Kilometer entlang des ehemaligen Todesstreifens verläuft. Start ist am 6. November auf der Bernauer Straße, am 9. November, dem 25. Jubiläum des Mauerfalls, will Claude Lerognon dort wieder angekommen sein. Möglicherweise trifft er zeitgleich mit Bundeskanzlerin Angela Merkel ein. Denn eine der zentralen Gedenkfeiern des Bundes zum Jubiläum findet in der Gedenkstätte Berliner Mauer auf der Bernauer Straße statt.