DIE BEZIRKSGRENZE (34)

Rund um den Alexanderplatz, Teil 2 von 3

Es ist der 7. Oktober 1977 und in der DDR der alljährliche Jubeltag. Ich bin sechzehn und stehe mit einem Schulkumpel am Rande des Alexanderplatzes, auf dem mehrere Hundert, vielleicht sind es sogar einige Tausend Jugendliche wie wir herum stehen, durchbrochen von vielen Grüppchen sehr „unauffälliger“ Herren die zu zweit oder dritt zwischen uns stehen und deren Kunstlederjacken sich an einer Seite der Brust deutlich ausbeulen.

 

Plötzlich Bewegung unter den Jugendlichen aus Richtung Fernsehturm und von der Seite sieht man Hundertschaften der Polizei. Sie treiben uns in den Autotunnel. Vorn kläffen wütende Hunde. Unter uns Jugendlichen geht es wie eine Warnung von Mund zu Mund: „Die kommen aus der Keibelstraße!“ Ich entwische mit meinem Kumpel nach hinten, vorn prügelt die Polizei. Ein Schüler aus der Parallelklasse unserer Schule ist zwei Wochen lang verschollen. Als er wiederkommt, hat er keine Haare mehr und seine Kopfhaut ist überall schorfig. Er murmelt nur immer wieder: „Ich war in der Keibelstraße in U-Haft.“ 

„Keibelstraße“ als Hort der Angst prägt sich mir ein und aus dem „freundlichen Volkspolizisten“ aus Kindertagen wird fort an der „Bulle“, vor dem man auch dann Angst hat, selbst wenn man nichts getan hat. Es dauert nach der Wiedervereinigung noch Jahre, bis ich verinnerliche, dass der Berliner Polizist kein Bulle, sondern ein echter Kumpel ist, dem man ruhig vertrauen kann und der einem nichts tut. 

Leicht unwohle Schauer hatte ich beim Bilder machen für diesen Artikel in der Keibelstraße dennoch.

Polizeiabschnitt Keibelstraße Berlin
Polizeirevier in der Keibelstraße – ein Herr Keibel liegt auch auf dem Friedhof am Prenzlauer Tor. Foto: rg

Das eigentliche Polizeipräsidium Berlin Alexander/Dircksenstraße wurde 1886–1890 nach Plänen des Stadtbaurates Hermann Blankenstein errichtet. Ab 1933 wurde der Komplex, im Volksmund „Rote Burg“ genannt, Sitz der Berliner Gestapo. Im Krieg erlitt das Gebäude 1944 und 1945 bei Luftangriffen der Alliierten und der Schlacht um Berlin schwere Schäden, wurde nicht wiederaufgebaut und 1957 die letzten Reste abgetragen, sodass ein Parkplatz entstand. Seit 2007 befindet sich auf dem Areal farblich in Anlehnung an die „Rote Burg“ das Einkaufszentrum Alexa.  

Das Haus in der Keibelstraße wurde 1930/1931 für das Warenhaus-Unternehmen Rudolph Karstadt AG errichtet. Da es sich schnell als Kaufhaus als zu groß erwies, wurde es an das Reichsfinanzministerium verkauft. Dieses richtete hier das Statistische Reichsamt ein, das die jüdischen Einwohner Berlins erfasste und zentrale Informationen für die Kriegsführung sammelte.

Nach der Zerstörung des alten Präsidiums am Ende des Zweiten Weltkrieg wurde der Bau nach rascher Reparatur ab 1945 Sitz des Berliner Polizeipräsidenten.

1951 wurde ein rückwärtiger Gebäuderiegel in der Keibelstraße angebaut. Bis 1990 war das Haus die Zentralverwaltung der Berliner Volkspolizei, in dem Neubau wurde das Polizeigefängnis eingerichtet. Der 1951er Bau erstreckt sich über acht Etagen und verfügte über 100 Gefängniszellen. Das erste Stockwerk wurde in Abstimmung mit dem Denkmalschutzamt im Jahr 2018 als Lernort umgestaltet und am 18. Februar 2019 eröffnet. Schüler der Altersgruppen 15 bis 20 Jahre können die Zellen und die Ausstellung besichtigen und sich mit der Geschichte des Ortes sowie dem Schicksal einiger Gefangener intensiv beschäftigen.  

Rolf Gänsrich, Juli 2019

www.rolfgänsrich.wordpress.com