IM SPIEGEL DER ANDEREN

Abseits der Protokollstrecke

Ja, stimmt. Für uns, die „Prenzlberger Ansichten“, ist der Prenzlauer Berg der Nabel unserer Kiezzeitungs-Welt. Logisch. Deswegen betreiben wir an dieser Stelle nun häufiger eine Nabelschau und blicken dabei über den eigenen Zeitungsrand: Was berichten die Anderen über den Prenzlauer Berg? Heute blättern wir in dem wunderbaren Band „Ost-Berlin“ des Christoph-Links-Verlages.

 

Es ist das große Geschenk dieses Bandes, dass er die persönlichen Erinnerungen ganz unterschiedlicher Menschen zu einer Erzählung aufblättert – von AutorInnen, WissenschaftlerInnen, SchriftstellerInnen. Götz Aly ist darunter, Annett Gröschner, Daniela Dahn, Marion Brasch. Ein erinnerndes Bild der Hauptstadt der DDR offenbart sich hier durch eine Vielfalt von Einzelstimmen. „Ost-Berlin“ erscheint im Vorspann des Mauerfall-Jubiläums am 9. November und dieser Zeitpunkt ist ein Glücksfall. Weil wir noch nicht aufmerksamkeitsgesättigt sind und dennoch hungrig nach Erinnerungsmustern, die Identitäts- und Erklärungsmuster sein können für diesen Osten, für den langen Schatten von Chemnitz. 

 „30 Erkundungen“ heißt das Buch des Christoph-Links-Verlages im Untertitel. Diese zeigen uns den Alltag Ost-Berlins, auch des Prenzlauer Bergs, durch das, was man gemeinhin Hintertür nennt. Und der Band ist so vieles mehr: Feuilleton und Historie, Sozialstudie, Biografie.

Protokollstrecke Berlin Prenzlauer Berg
Essays aus der Ost-Hälfte Berlins in den DDR-Jahren erhält der Band „Ost-Berlin“. Cover: C.Links-Verlag

Drei dieser Erkundungen des Prenzlauer Berges seien hier ausführlicher erwähnt, zwei weitere zumindest angerissen: Die erschütternden Innenansichten der Synagogen-Ruine in der Oranienburger Straße (Annette Leo). Und die Beschreibungen, wie komplex sich ein Telefongespräch in Ost-Berlin gestalten konnte – und was alles manchmal unfreiwillig mitzuhören war (Peter Pragal).

Eine der Prenzlauer-Berg-Erkundungen ist eine fotografisch-textliche Fahrt entlang der Greifswalder Straße und weiter bis Weißensee. Ein Panorama zusammengesetzter Bilder zeigt Straße und Erdgeschoss-Fronten dieser sogenannten Protokollstrecke, die Honecker und Co während ihrer täglichen Fahrt aus Wandlitz zum Regieren in Mitte zu sehen bekamen. 

Ines Hahn schildert anhand dieser Aufnahmen eines unbekannten Fotografen ihre eigene Biografie, die eng mit der Greifswalder Straße verschlungen ist. Beeindruckend die Offenbarung, wie sehr die Greifswalder, die sich heute noch nicht zur schicken Magistrale mausern will, einst eher ein industrielles Schmuddelkind war. Textilfabrik, Schuhhersteller, Kosmetik, Kohlehandel, Wäschereien – die ganzen sechs Kilometer hinauf von Mitte bis Weißensee. Eines der letzten Relikte davon, die Retro-anmutende Leuchtreklame von „Stern-Radio“ an der Ecke zum Friedrichshain, verschwand erst vor einiger Zeit.

Lea Streisand schreibt Kindheits-Erinnerungen aus der Hufelandstraße. Den Umzug aus Adlershof in den Prenzlauer Berg, Hinterhof, Teppichstange, Kohlengeruch, hatte sie zunächst als Kulturschock erlebt. Am 4. November 1989 darf die Zehnjährige ihre Eltern, die mit selbst gemaltem Transparent zur Demonstration am Alexanderplatz ziehen, nur bis zur Greifswalder Straße begleiten. Dann ist Schluss. Zu gefährlich befindet die Mutter den weiteren Weg. Das Kind sitzt dann allein vorm Fernseher und sucht in den Zehntausenden Demonstranten am Bildschirm die Eltern. 

1999 ist es dann vorbei, die Eltern können sich die teurer gewordene Wohnung nicht mehr leisten und ziehen weg. „Wenn ich heute Leuten erzähle, ich sei in der Hufelandstraße aufgewachsen, bekommt irgendwie jeder feuchte Augen.“ 

Als besseres Mitte-Kind hat sich Claudia Schön in Erinnerung. Sie ist aufgewachsen an der Grenze zu Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Die Prenzlauer Berger haben damals noch das Gasometer auf dem heutigen Thälmannpark-Gelände, die Friedrichshainer den Volkspark. Die Mitte-Kinder haben den Alexanderplatz mit den West-Touristen – und sind deswegen etwas Besseres. Aus den West-Zigarettenstummeln lassen sich wunderbar eigene Zigaretten drehen und Backe rauchen. Und aus Kohleanzünder, Wunderkerzen und allerlei aufgesammeltem Kram baut Claudia Schön mit ihrem Freund eine Rakete und zündet sie im Volkspark Friedrichshain. 

Schöns Kindheit ist eine Kindheit im Wettbewerb der Bezirke und der ständigen Präsenz eines Volkspolizisten, der die Schlüsselgewalt über die Ampeln hat und den gesamten Verkehr lahmlegen kann, wenn die Parteiführung die Straße braucht. „Fuhr Honecker kurz nach sieben zur Arbeit, verspäteten sich ganze Schulklassen.“

Im Christoph-Links-Verlag ist auch ein Band „West-Berlin“ erschienen. 

-al-,  Juni 2019