GESCHICHTEN VON FLÜCHTLINGEN

„Die ersten 50 Tage ohne Angst“

Flüchtlinge leben mit uns, unter uns, neben uns. Die UnterstützerInnenkreise in Prenzlauer Berg und Pankow geben den Menschen aus Syrien, dem Irak und anderen Krisengebieten der Welt alltägliche Hilfe. Eine davon ist: zuhören und aufschreiben, welche Biografien die Geflohenen haben, welche Geschichten sie erzählen können oder müssen. Diese ist eine davon. 

Zeitung Prenzlauer Berg Magazin
Grafik: Lina Ernst

Es ist die Geschichte von H.H., 31 Jahre alt, geboren in Afghanistan. Vater zweiter Kinder. „Ich bin 1984 geboren, habe fünf Brüder und vier Schwestern. Die Bevölkerung meiner Heimat ist tief gespalten, die Geräusche meiner Kindheit sind Geräusche des Krieges. Seit ich denken kann, schlittert mein Heimatland von einer Krise in die nächste und jedes Mal, wenn ich hoffte, jetzt könnte es endlich besser werden, die Angst aufhören, gingen die Auseinandersetzungen von vorn los. 

Als ich alt genug war, um in die Schule zu gehen, gab es in meiner Heimat keine öffentlichen Schulen mehr. Nach einem zehn Jahre dauernden Krieg zogen gerade die Russen von dannen. Zurück blieb ein zerstörtes Land, allerorten Agonie. Mit 13 Jahren ging ich allein in den Iran. Ich brach auf – und mit dieser Entscheidung meinen Eltern das Herz. Mich trug die große Hoffnung, dass dort eine bessere Welt auf mich wartet. Ein frommer Wunsch, nichts wurde besser. Ich wollte zur Schule gehen und durfte es nicht, weil ich ein Flüchtling war. Ich wollte einen Beruf lernen und durfte es nicht, weil ich ein Flüchtling war. Alles, was ich mir wünschte, war mir untersagt. Weil ich mein Land verlassen hatte, um ein besseres Leben zu finden. Alles, was mir der Iran mit 13 Jahren bot, war eine knochenharte Tagelöhner-Existenz, Hilfsarbeiterjobs auf den Baustellen derer, die bessere Startbedingungen ins Leben hatten als ich.

Ich blieb, denn ich hatte gerade ein Mädchen kennengelernt. Wir heirateten, kurz darauf kam unser Sohn zur Welt. Zwar war ich nun mit einer Iranerin verheiratet, ich blieb aber der Flüchtling. Ein Makel, den man mir ansah wie eine Narbe im Gesicht, auf die man mich immer wieder ansprach.

2007 kam unsere Tochter zur Welt. Die folgenden Jahre waren wieder gepflastert von Schikanen seitens der Regierung gegen mich, den Flüchtling. Wenn man mir nicht gerade meine Arbeitserlaubnis abspenstig machte, obwohl ich mit einer Iranerin verheiratet war, wanderte ich von Aushilfsjob zu Aushilfsjob.

Immer noch hatte ich den großen Traum, Kameramann zu werden. Einer meiner Freunde beantragte in seinem Namen eine Lizenz, mit der er als Kameramann arbeiten durfte. Als Iraner bekam er sie problemlos. Unter seiner Lizenz fing ich an, Filme zu machen und wenn uns jemand fragte, was ich da tat, war ich eben sein Assistent.

Wir drehten mehrere dokumentarische Kurzfilme, die von meinen Erfahrungen im Iran handelten. Einer dieser Filme reflektierte die Tatsache, dass ich keine Fahrerlaubnis machen durfte, ein anderer Film erzählte vom Schulverbot für Flüchtlingskinder. Wir hatten keine Möglichkeiten, diese Filme zu zeigen. Wir drehten Filme ohne Publikum, aber ich konnte – in meiner wenigen Freizeit – endlich tun, was ich tun wollte. Geld verdiente ich damit nicht. 

Als mein Sohn schließlich in die Schule kommen sollte, bekam auch er die Last meiner Herkunft zu spüren. Mit einem Flüchtling als Vater war es ein Kraftakt, eine reguläre Schulerlaubnis für ihn zu bekommen. Ich war qua Geburtsort dazu verdammt, ein Hilfsarbeiter zu bleiben in diesem Land. Auch meine Frau hatte erkannt, dass unser Lebensweg eine Sackgasse war. Vor drei Jahren ließ sie sich von mir scheiden. Ich verlor nicht nur sie, sondern auch meine Kinder und den Schutz, den mir meine Ehe mit einer Iranerin in diesem Land noch bot. Schnell befanden offizielle Stellen über meine Abschiebung und ich musste zurück in meine Heimat.

Ich organisierte meine Flucht noch in meiner Heimat, im September begann die Reise – zu Fuß in die Türkei. Jede Nacht zehn Stunden im Regen über die Berge. In der Türkei bin ich mit 35 Mann an Bord eines Bootes nach Griechenland gegangen. Unser Gepäck – in diesem Moment unnötiger Ballast – ließen wir zurück. Von Griechenland ging es mit dem Zug weiter in die Slowakei. Überall, wo ich ankam, stand ich in Schlangen. Ich hatte nur sehr wenig Geld mitgenommen, weil ich Angst hatte, auf dem Weg überfallen und ausgeraubt zu werden. In den Flüchtlingslagern bekam ich nichts zu essen.

Seit 50 Tagen bin ich in Berlin. Ich bin 31 Jahre alt und das sind die ersten 50 Tage meines Lebens, an denen ich keine Angst habe. Ich spüre zum ersten Mal, wie sich Leben anfühlen kann. Die Menschen hier sind nett und herzlich. Sie wollen uns helfen, sie bringen uns die Sprache bei, laden uns zu sich nach Hause ein. Ich bin jetzt 31 Jahre alt und werde, so fühlt es sich an, endlich wie ein Mensch behandelt. Die Leute schauen mir ins Gesicht und sehen nicht nur den Flüchtling. Ich spüre diesen Makel nicht mehr, seit ich hier angekommen bin. 

-al- (März 2016)

Diese und weitere Geschichten sammelten Conrad Menzel, Norman Briewig und Lina Ernst auf: http://amnullpunkt.de

Mehr davon am 23. April in der Fehre6, Fehrbelliner Str. 6