KOLLWITZ-PLATZ

Brennglas bürgerlicher Kiez

Was ist los rund um den Kollwitzplatz? Der Kiez, dem das Etikett als Ur-Kiez des Prenzlauer Berg anheftet, macht derzeit auf ambivalente Weise auf sich aufmerksam. Wie ein Hotspot der Strömungen dieser Zeit. Über Corona-GegnerInnen, Sozial-Proteste und gedeckelte Bürgerlichkeit. Ein Streifzug.

Okay. Dieser Cartoon muss als Einstieg in diesen Text über den Kollwitz-Kiez in diesen trüben Winter-Wochen einfach mal sein. Es geht, na klar, um „Die Mütter vom Kollwitzplatz“, die wunderbaren Cartoons des Zeichners OL, der ja gar nicht am Kollwitzplatz lebt. Egal. „Was macht Ihr denn mit 6.000 Windeln. Du bist doch gar nicht schwanger?“ fragt eine Frau eine andere, die gerade Windelpakete in ihr Auto packt. „Na und? Weiß denn jemand, wie lang dieser Lockdown dauert?“ fragt die zurück.

Der Lockdown. Die Lockdowns. Die Zeit dazwischen. Im Zentral-Kiez von Prenzlauer Berg ist wohl am deutlichsten spürbar, das seit dem März 2020 irgendwie alles anders ist. Die TouristInnen weg, die geführten Fahrrad-Touren mit ihnen. Halbdunkle Schaufenster, die zumindest zum Windows-Shopping animieren wollen. Geschlossene Cafes und Restaurants, kleine Stände mit frierenden GastronomInnen davor. Bis auf ein paar Sommer-Wochen 2020 scheint der Kiez rund um den Kollwitzplatz tatsächlich der gutbürgerliche Familienkiez zu sein, als den der Comic-Zeichner OL ihn seit Jahren karikiert:  Mütter, Kinderwagen und Kinder auf der Straße – mehr als sonst in Deutschland. Zumindest gefühlt. 

#Kollwitzplatz #Kolle37 #PrenzlauerBerg
Gehört der „Kolle 37“ nicht mehr zu Berlin? Zumindest nicht, was die Bezahlung der Menschen in Kinder- und Jugendeinrichtungen betrifft. Per Postkarte können Menschen gegen die soziale Ungerechtigkeit protestieren. Foto: al

DEMONSTRATIONEN

Und dann, im Januar 2021, auf einmal das: Polizeiaufgebot, Versammlungen von Corona-SkeptikerInnen in einer Bar. Live-Streams der Parolen via Internet. Bundesweite Schlagzeilen. Wieder Polizei, wieder Versammlungen. Gegendemonstrationen des Berliner Bündnisses gegen Rechts mit Transparenten „Corona-Leugner:innen raus aus dem Kiez“. Klare Positionen und wirres Zeug in den sozialen Medien. Im gemütlichen Familienkiez stehen sich plötzlich, wie aus dem Nichts, die zwei Seiten gegenüber, in die das Land gespalten scheint. Er wird zu einem Hotspot dessen, was in diesem Land gerade unter dem Lockdown tobt: Mal in Form der Demonstrationen und Gegendemonstrationen, mal durch Wortmeldungen selbst ernannter OrdnungshüterInnen und das laissez faire-Verständnis anderer in Sachen Kontaktbeschränkungen.

Das bisschen Schnee Ende Januar beruhigt die Gemüter auch nicht wirklich. Es brodelt weiter. Weil auf dem samstäglichen Wochenmarkt Menschen ohne Maske ihren Imbiss verzehren, alarmieren gestresste AnwohnerInnen das Ordnungsamt. Das wiederum verweist auf die Grauzonen der Corona-Infektionsschutzverordnung. Und auf die Existenzsorgen der HändlerInnen. Wir sind mittendrin im Spiel mit einem komplexen Regelwerk.

 

PROTEST PER POST

Schauen wir mal weg vom Wochenmarkt und dem gegenwärtigen Regelknäuel hin auf einen Zaun in der Kollwitzstraße. Am Abenteuerlichen Bauspielplatz hängt ein Ortsausgangs-Schild „Sie verlassen die Landeshauptstadt Berlin. Hauptstadtzulage für alle“. Unweit davon ein Kasten mit Postkarten zum Mitnehmen und Ausfüllen. „#WIRSINDEINBERLIN! Hauptstadtzulage für alle“. Hauptstadtzulage – das liest sich wie ein Rückgriff auf das West-Berlin der 80er Jahre, als die Menschen dort Vergünstigungen bekamen, weil sie auf der freien Insel, umzingelt vom Sozialismus, lebten. Tatsächlich hat der Senat im vergangenen Herbst eine Hauptstadtzulage für alle Angestellten des Landes beschlossen: 150 Euro bekommen die Menschen in den Verwaltungen und in landeseigenen Einrichtungen monatlich mehr. Der Postkarten-Protest, ins Leben gerufen vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, macht auf eine soziale Ungerechtigkeit aufmerksam: Für die Beschäftigten in den Einrichtungen freier Träger gilt diese Hauptstadtzulage nicht. Sie werden benachteiligt, die KindergärtnerInnen und ExpertInnen in Jugendeinrichtungen. Zu denen gehören auch die Leute vom Abenteuer-Spielplatz und dem dahinterstehenden Netzwerk Spiel/Kultur, gehören weitere Menschen in Kindereinrichtungen in Prenzlauer Berg. Sie machen die gleiche Arbeit für weniger Geld. Und arbeiten im Lockdown weiter, im Notbetrieb, damit die Kinder und Jugendlichen bei Bedarf eine Anlaufstelle haben.

Mit einer ausgefüllten Postkarte kann jeder Mensch gegen die soziale Ungerechtigkeit in der Entlohnung beim Berliner Senat protestieren. 100.000 Postkarten verteilte der Paritätische Wohlfahrtsverband zunächst. Der Slogan der sozialen Organisationen „WIRSINDEINBERLIN!“ auf ihren Postkarten nimmt dabei den neuen offiziellen Marketing-Claim der Hauptstadt wörtlich. Eine fröhliche Demonstration und erste Unterschriften-Übergabe gab es im Herbst 2020 vor dem Roten Rathaus.

 

WIDERSTÄNDISCHES LACHEN

Blicken wir zum Schluss noch einmal auf den Kollwitzplatz-Cartoonisten OL, weil Lachen ja auch immer etwas Befreiendes hat. Und weil es so schön ist: „Meine erste Million habe ich im zweiten Lockdown mit Flaschensammeln gemacht,“ erzählt ein älterer freundlicher Herr einem Kind auf einer Parkbank, vor der Kulisse eines Zukunfts-Berlin. „Die Kneipen waren zu. Die Leute mussten draußen trinken.“

-al-, Febr. 2021