Brot, Bücher und Benutztes

Taste the waste vom Prenzlauer Berg: Soziales und ökologisches Gewissen treibt zur Zweitverwertung, weniger die Armut.

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Antiquar Horst Herkner stellt gern gebrauchte Bücher kostenlos in den Bücherwald zum Mitnehmen: "Ein richtiger Kulturtreff."

Das Brot ist zwar vom Vortag, aber gewiss noch nicht alt“, reagiert Vesta Heyn etwas ungehalten auf die Frage, warum Sie in ihrem Laden „Second Bäck“ an der Raumerstraße 38 keine „frischen“ Backwaren anbietet. Seit nahezu zwölf Jahren schwingt sich die inzwischen 49-Jährige morgens um halb Sechs hinter das Lenkrad ihres kleinen Lieferwagens, um in Berliner Bäcke­reien die am Abend zuvor übriggebliebenen Erzeugnisse vor der Tierfuttertonne zu retten. 

Ihre Produzenten sind Bio-Bäckereien und andere kleine Handwerksbetriebe, die gute Ware aus vollem Korn und Na­tur­sauerteig herstellen. Beides braucht eigentlich ein bis zwei Tage, um be­kömm­lich zu werden. Jedoch steckt die Zunft in dem Dilemma, dass der Kunde sogar kurz vor Feierabend das volle Sortiment erwartet – und das möglichst ofenwarm. „Das geht so weit, dass ein vor 30 Minuten angeschnittenes halbes Brot nicht mehr akzeptiert wird“, beschreibt Vesta Heyn den Frische-Wahn­sinn. 

Erst in jüngster Zeit setzt sich durch, dass Lebensmittel zu kostbar für die Schweinemast oder den Abfall sind. Die­ses Bewusstsein förderten insbesondere Filme wie „Feed the World“, der mit 600000 Zuschauern innerhalb von zweieinhalb Jahren als erfolgreichster österreichischer Dokumentarfilm gilt oder sein deutsches Pendant „Taste the Waste“ von Valentin Thurn. Der Filme­macher hat unter anderem herausgefunden, dass jedes fünfte Brot nicht gegessen wird. Aber für diesen weggeworfenen Laib wurden Ackerbauflächen und Energie verbraucht, die dann glo­­bal fehlen, um die Men­schheit zu ernähren. 

Mit ihrer Idee, dieses Brot zu bewahren, betrat Vesta Heyn im Jahr 2000 Neuland. Erst nach mehr als einem Jahrzehnt wurde sie Ende 2011 von der Stiftung Naturschutz Berlin mit dem Um­welt-Preis „Trenntwende“ ausgezeichnet. Aber der Gedanke, dass Lebensmittel kostbar sind, ist uralt: „Mein Vater hat erzählt, dass seine Mutter das Brot markiert hat, damit sich niemand unbemerkt eine Scheibe abschneiden konnte. Das war noch vor dem Krieg.“ Nun, im neuen Jahr­tau­send, kommt ihr das erwachte öko­logische Bewusstsein der Kund­schaft in Prenzlauer Berg entgegen, das auf knappere finanzielle Verhältnisse junger Familien trifft. Denn der entscheidende Vorteil ist, dass im „Second Bäck“ ein Brot nur noch die Hälfte von dem kostet, für das es tags zuvor in einer Bio­backstube lag. „Das funktioniert allerdings nur, weil die Qualität meiner Ware stimmt“, unterstreicht sie ihr An­liegen, gutes zum günstigen Preis anzubieten und dadurch ein klein wenig die Welt zu retten. „Dass der Kunde heute rund um die Uhr die gesamte Warenfülle erwartet, daran können wir vielleicht nichts ändern, aber wir können uns Gedanken darüber machen, wie wir mit den Resten umgehen“, gibt die Ge­schäfts­frau zu bedenken. Kürzlich hat sie eine Filiale eröffnet – natürlich in Prenzlauer Berg.

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Sonntags-Shopping mal anders: An der Give Box an der Kollwitzstraße 19 herrscht reger Betrieb.

Über mangelnden Nachschub mit länger gelagerten, aber nach wie vor guten Lebensmitteln, kann auch Bärbel Jeni­chen von der Aktion „Laib und Seele“ nicht klagen. Seit sieben Jahren fährt ein Team der Evangelischen Kirchen­ge­meinde Prenzlauer Berg Nord donnerstags Früh zu Bäckereien und Super­märkten des Bezirks, um dort aussortierte Ware einzusammeln. Eine Lieferung von der Berliner Tafel ergänzt das An­gebot im Gemeindehaus an der Göhrener Straße 11. Oftmals stehen die ersten Bedürftigen schon seit einer Stunde vor der Tür, wenn sich diese um elf Uhr öffnet. „Wir treffen auf ein Ausmaß an Man­gel, das in Prenzlauer Berg seit einigen Jahren gern verdrängt wird“, schreibt Bärbel Jenichen im aktuellen Gemeindebrief.

Mit der Sanierung der Bausubstanz verschwinden auch Orte, an denen Anwoh­ner Überflüssiges hinterlegen für diejenigen, die es vielleicht noch benutzen wollen. So etwa ein Holzregal auf Höhe der Schliemannstraße 37, das einer schicken Hausfassade weichen musste. Dass nun einige Menschen ihre Habselig­keiten gegenüber auf der Bank zur kleinen Parkfläche ablegen, ist kein Ersatz. Viel zu schnell macht Feuchtigkeit elektronische Geräte und Bekleidung unbrauchbar. Immer wieder auf der Straße ausgesetzte Möbel und Geräte ohne Gebrauchswert zeugen davon, das sich offensichtlich noch nicht herumgesprochen hat, dass die Berliner Stadt­reini­gungsbetriebe (BSR) an der Behmstraße, Ecke Malmöer Straße, Sperrmüll und Elektronikschrott kostenlos aus Privat­haus­halten annehmen, um sie für die Wie­derverwertung zu sortieren. Was dennoch zu schade zum Weg­werfen ist, kann auf einer unkommerziellen Online-Plattform der BSR angeboten werden. Da suchen etwa eine Küchenwaage im Tausch gegen Weichspüler, ein PC gegen Zigaretten oder eine elektrische Schreibmaschine, einfach nur zum Abholen, neue Nutzer.

Wem das zu umständlich ist, bringt neuerdings seine Habseligkeiten zur „Givebox“ an der Kollwitzstraße 19 neben dem Abenteuer­bau­spiel­platz. Am Sonntag herrscht dort Hochbetrieb. Mit großen blauen Taschen ausgerüstete Passanten erscheinen zielstrebig. Schnell sind von dem Geschirr, Kleidung und Haushaltsgeräten nicht mehr übrig, als ausgedienter Weihnachts­schmuck und ein paar Groschen­romane. Dieser wie ein überdimensionaler Schrank wirkende große Bretterverschlag wurde anonym von jemandem aufgestellt, der das aufgemalte Motto „Sharing is Car­ing“ unterstützt. Denn jeder Gegen­stand, der noch einmal genutzt wird, verbraucht keine Ressourcen und auch keine Energie, wie sie für Recycling nötig wäre. 

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Rettet Brot vom Vortag und wurde dafür mit einem Unternehmerpreis ausgezeichnet: Vesta Heyn vom Second Bäck. Foto: privat

Nach diesem Prinzip funktioniert auch der „Bücherwald“ an der Sredzki-, Ecke Kollwitzstraße. Seit drei Jahren werden die Baumstämme mit den eingelassenen Fächern von ganz verschiedenen Nutzer­gruppen aufgesucht. Aus einer Initiative von Branchen, die bei der Wert­schöp­fung des Produktes Buch tätig sind, haben Auszubildende von der Forst­wirt­schaft bis zum Buchhändler diese Skulp­tur geschaffen. „Das ist ein richtiger Kultur­treffpunkt“, schwärmt Horst Herk­ner. Der Antiquar betrieb noch vor einigen Jahren zwei Geschäfte rund um den Kollwitzplatz. Antiquariate sind hier selten geworden; derzeit räumt Christiane Hoff ihr „LesArt“ an der Rykestraße 6. Horst Herkner gibt seinen Büchern nun im Internet unter www.biblioman.de eine zweite Chance. Einen Teil der Kostbarkeiten, die er aus Haushalten und Bibliotheken rettet, fährt er zum „Bücherwald“. „Was ich abends einstelle, ist meist am nächsten Tag wieder weg“, freut er sich über den Zuspruch. Genutzt wird der „Bücher­wald“ nicht nur von Menschen, die der Überzeugung sind, dass man mit wenig persönlichem Besitz auskommt, weil man das Meiste mit anderen Teilen kann, sondern auch von wirklich mittellosen Menschen. 

Andere Möglichkeiten, von den Resten des Überflusses zu leben, wurden jedoch eingeschränkt. Der bei sogenannten „Mülltauchern“ ehemals beliebte Kai­sers-Markt an der Wins-, Ecke Marien­bur­ger Straße, sichert nach seinem Umbau 2010 seine Mülltonnen. Zuvor hatten sich dort Bedürftige und Konsumkritiker kostenlos von den entsorgten Lebens­mitteln bedient. Da das „Containern“ aber sowohl Hausfriedensbruch als auch Diebstahl (von Müll) ist und damit strafbar, soll an dieser Stelle nicht darauf hingewiesen werden.

+ Fotos: Jack Rodriguez (März 2012)

Second Bäck, Raumerstr. 38 (Mo.-Fr. 8-19.30, Sa. 9-17 Uhr) und Paul-Robeson-Str. 40 (Mo.10-19.30, Sa. 10-17 Uhr).

Laib und Seele, Göhrender Str. 11, Lebensmittelausgabe donnerstags 11 Uhr. Filmvorführung „Taste the Waste“ am 14. März um 19.30 Uhr.

BSR-Recyclinghof Behmstraße 74 (M.-Fr. 9-19, Sa. 7-14.30 Uhr). www.bsr.de/verschenkmarkt