Menschen und Kneipen im Winskiez, Folge 3

Hommage an den „Ollen“ (1937 - 2002)

Seit Sommer 1992 war ich nach vielen Jahren wieder mal im Winskiez und brauche einen Ort, wo ich arbeiten, telefonieren und etwas Essen und Trinken kann. Ich entdecke  die Gaststätte „Stop 7“, Immanuelkirch­straße 7 Ecke Winsstraße 65. Nach wenige Besuchen fällt mir der Gast auf, der stets links an der Theke sitzt mit einem Glas Bier und einem Kreuz­worträtsel vor sich. Ich setze mich zu ihm, lade ihn ein und so kommen wir ins Gespräch. Auf meine Frage, was er denn so treibt, antwortet Gerhard S. : „Ich bin arbeitslos, wie so viele hier. Früher war  ich  Ingenieur bei der Post; zuletzt habe ich bei der BEWAG gearbeitet; aber auch die haben mich nicht mehr gebraucht ...“ Und dann beginnt er erst richtig zu erzählen: Ich komme aus Oberschöne­weide; meine Geschwister wohnen heute noch dort. Nach meinem Studium in Leipzig hat es mich nach Friedrichsroda in Thüringen verschlagen. Naja, als dann meine Ehe auseinander ging, bin ich wieder zurück nach Berlin. Der freundliche, immer lächelnde Mann in den besten Jahren gefällt mir. Ich nehme wahr, dass er hier im Kiez so etwas wie eine Institution ist. Andere Gäste begrüßen ihn freudig: „Tach, Oller - Wie jeetz?“, wechseln ein paar Worte mit ihm, prosten ihm zu. Einige Jahre vergehen. Immer wieder treffe ich auf „Charly“ - so war sein Spitzname in der Familie - im „Café Wins(z)ig“ in , bei Sadik Dogan, der zusammen mit seiner Frau und seinen vier Söhnen den  „Palast-Bis­tro“ in der Winsstraße  betreibt und kiezbekannt ist für seine lecker gegrillten Hähnchen und seinem frischen Döner. Oder im Zei­tungsladen mit angeschlossener Bierstube  bei Detlef „Schnurri“ S. in der Marienburger Straße. Der „Olle“ scheint überall zu Hause zu sein. Zu Beginn des Jahres 1996 miete ich von der „WIP“ eine Wohnung im Kiez; ab Mai wohnen meine Frau Birgit und mein Sohn Tobias, damals 5 Jahre alt, hier. Ich habe noch meinen Arbeitsplatz in Hanau, pendele ständig hin und her und lade Gerhard S. ein, mal für ein paar Tage mit nach Hessen zu kommen. Auf der Autobahn staunt der „Olle“: „Guck' doch nur mal, das sind doch keine Last­wagen, das sind rollende Warenhäuser!“ In Hanau angekommen kehren wir im „Königstübchen - Bei Hayro“ ein; Hay­ret­tin Y., mein langjähriger türkisch-kurdischer Freund und Gastwirt, erinnert sich gut an Gerhard S.:“ Das war ein netter, guter Kerl! Und ein guter Gast!“ Weihnachten 1996: Zum Weihnachts­braten zu Gast ist meine Mutter Eleonore aus Spandau und Gerdchen S.; er langt kräftig zu,ihm schmeckt der Braten und er freut sich sichtlich, wieder mal „Fa­milie“ um sich zu haben. Am besten versteht er sich mit dem kleinen Tobias - und kriegt es bald fertig, dem Jungen das Radfahren beizubringen. So gewinnen wir einen treuen Nachbarn, Freund und Helfer in der Familie, in Haus und Hof – nicht immer zuverlässig und pünkt­lich – doch immer ehrlich und korrekt. Gerhard S. outet sich als Anhänger der Sozialdemokratie; tritt schließlich der SPD  bei und gehört zu den Gründern der „Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmer­fragen(AfA)“ Berlin - Prenzlauer Berg. Wieder einmal auf dem Weg von Berlin nach Hanau ... und der Zug fährt uns vor der Nase weg. Kurz entschlossen entscheide ich: „Komm, Gerhard, wir nehmen 'nen Flieger!“ Was für ein Erlebnis für jemanden, der nie groß raus gekommen ist aus Leipzig, aus Friedrichsroda, aus Berlin. Der herzensgut-gutmütige, lebenslustige  und immer sorgfältig gekleidete Mensch Gerhard S. verfällt mehr und mehr dem Alkohol; der „Helfer“ kann und will sich selbst nicht helfen; verfällt der Demenz. Seine letzten Lebensjahre verbringt er in einem Alten­wohnheim – jenseits des Winskiezes. Jetzt kümmern sich Familienmitglieder um ihn, soweit sie dazu die Kraft und die Zeit haben. Im April 2002 stirbt der „Olle“; zu seiner Beerdigung trifft sich nur die Familie: Seine drei Kinder, die Brüder mit ihren Frauen. Aus dem Wins­kiez ist niemand dabei – die Verbindung ist abgerissen. Trotzdem und alledem – Der  liebe  Nachbar, Helfer, Genosse und Freund, der „Olle“, ist nicht vergessen. Mit Worten von Ferdinand Freiligrath (1810-1876) nach Robert Burns (1759-1796) denke ich an Gerdchen und Charly und den „Ollen“, Gerhard S. aus dem Wins­kiez: Den Sieg erringt trotz alledem! Trotz alledem und alledem Es kommt dazu trotz alledem, Dass rings der Mensch die Bruderhand Dem Menschen reicht trotz alledem.
✒ Text / Foto: Christian Robbe (März 2011)

 


 

Interview mit Peter M. 

Pepe, seit Beginn der 1990er Jahre lebst Du - quasi als „Inventar“ - im Winskiez. Fällt Dir spontan ein Mensch ein, an den Du Dich gern erinnerst ? 

„Natürlich an Gerdchen S., den alle nur den „Ollen“ nannten. Der Kiez hier ist ein kleines Dorf, aber eine große Gemeinschaft: Überall triffst Du Freunde, Nachbarn, Bekannte und der „Olle“ gehörte viele Jahre dazu!“ 

Wo bist Du ihm begegnet? 

„Na, in allen Kneipen entlang der Winsstraße - vom Palast-Bistro in der Winsstraße 1 bis „Zur Eule“ an der Ecke zur Marienburger Straße. Gerhard S. war ein unverwechselbares Original: Er war ein liebenswerter und aufgeschlossener - manchmal auch nervender Kumpel. Von allen im Kiez wurde er gemocht, wenn er - als alter Combo-Schlagzeuger - auf den Theken trommelte! - und ließ sich - weil er ein „Netter“ war -  auch immer mal 'nen Bier spendieren ...! Er konnte ohne Pause, ohne Punkt und Komma wunderbare Geschichten oder selbst Erdachtes erzählen. Seine Erzählungen stimmten zwar nicht immer, aber sie hörten sich trotzdem gut an.“ 

Was weißt Du von seinem Leben vor seiner Zeit hier?

 „Er war lange  bei der Deutschen Post beschäftigt; er hatte ein Ingenieur - Fachstudium in Leipzig gemacht. Zuletzt war er in einem Heizkraftwerk in Lichtenberg beschäftigt bis ihn die Wende und der Alkohol aus der Bahn geworfen hat. Offenbar hatte  auch kein Glück mit seinen Partnerschaften. Er war nicht reich,  hat aber mehr als einmal seinen letzten Groschen geteilt. Half anderen beim Schriftwechsel mit Ämtern  und Behörden, nahm auch mal wohnungslose Freunde auf - er hat anderen Menschen  im Rahmen seiner Möglichkeiten immer wieder geholfen - auch noch, als er längst selbst hilfebedürftig war. An sich selbst hat der „Olle“ immer zuletzt gedacht!“ 

✒ Interview / Foto: Christian Robbe (März 2011)