Die Sinfonie einer Straße

Die Käthe-Niederkirchner-Straße verläuft von West nach Ost durch den Bötzow-Kiez. Eine Wohnstraße mit kleinen Läden und Unternehmen, die ihre Schaufenster dekorieren, als wollten sie signalisieren: Auch hier, in dieser Seitenstraße, lebt und arbeitet es sich prächtig. Ein Sightseeing auf einer Straße, das zu einer Spurensuche wird.

Zeitung Prenzlauer Berg Magazin
Als stille Seitenstraße führt sie von West nach Ost durchs Bötzow-Viertel: Die Käthe-Niederkirchner-Straße.

Sie ist eine der unprätentiösen Straßen des Bötzow-Kiezes: Etwa 400 Meter lang, verbindet sie Greifswalder Straße und Am Friedrichshain, zieht sich einmal von West nach Ost durch das Viertel. Sie verläuft parallel zur schicken Schwester Hufelandstraße und kreuzt auf ihrer Hälfte die strahlende Magistrale Bötzow-Straße. Sie trägt den Namen einer, die sich gegen die Nazi-Diktatur auflehnte, wie andere Straßen auch in diesem Kiez: wie die Dietrich-Bonhoeffer- und die Hans-Otto-Straße etwa.
An ihren beiden Seiten stehen die üblichen Gründerzeithäuser. Schön saniert die meisten, im Lauf der Jahre schmucklos geworden die anderen.
Von Westen, von der Greifswalder Straße kommend, wirkt die Käthe-Niederkirchner-Straße zunächst still, ein wenig dunkel auch. Die kleinen Straßenbäumchen links und rechts spenden wenig Schatten, die Sonne kommt nicht wirklich über die Häuser bis hinunter aufs Pflaster.
Schritt für Schritt zeigt sie dann doch ihre Eigenheit: Ein Gemisch aus ruhiger Wohnstraße und kleinen Läden und Firmenbüros, die auf kreative Weise flaggen, was sie tun. Irgendjemand hat eine  selbstgetöpferte Tasse mit Teller vor ein Fenster gestellt, auf der steht, wie auf einer Ton gewordenen Kleinanzeige: Suche Fluglehrer. Ein Modellier-Labor wirbt mit dem Torso einer schwangeren Frau im Schaufenster. Auf dem Bauch des Modells steht, in Originalfarben, „Kinderüberraschung“. Nebenan prangt ein Aufsteller stolz auf dem Gehweg: „Unser Fleisch ist jetzt Bio“. Die sinnigen Flaneure, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Großstadt durchstreiften, wussten aus solchen urbanen Bildern, Splittern und Tönen ganze Romane zu ersinnen. Wer flaniert heute noch und nimmt diese großstädtische Sinfonie in sich auf?

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Ton gewordene Kleinanzeige: „Suche Fluglehrer“ steht auf der Tasse. Fotos (2): al

Käthe Niederkirchner, die Namensgeberin dieser stillen Straße, hat eine Nichte mit nahezu gleichem Namen. Diese Nichte, geboren im Todesjahr ihrer Tante, praktiziert als Kinderärztin in Lichtenberg. Ihre Tante war Schneiderin, Radiosprecherin, Agitatorin und vor allem: überzeugte Kommunistin und Widerständlerin gegen das Hitler-Regime. Geboren 1909 in Prenzlauer Berg, Tochter eines kommunistischen Gewerkschaftsführers. Am Geburts- und Wohnhaus in der Pappelallee 22 erinnert eine Gedenktafel an ihr kurzes, nicht mal 35jähriges Leben.
Käthe Niederkirchner wurde schon zu Beginn der Nazi-Ära aus Deutschland ausgewiesen. In Moskau bereitete sie sich auf eine Arbeit im Untergrund vor. 1943 sprang sie mit dem Fallschirm über Polen ab. Sie sollte sich nach Deutschland durchschlagen und dort die kommunistische Untergrundarbeit unterstützen. Doch der Fallschirmsprung wurde ein Sprung in den Tod. Niederkirchner und ihr Gefährte landeten in den Händen und Gefängnissen der Gestapo. Sie wurde gefoltert und schließlich im Konzentrationslager Ravensbrück erschossen, acht Monate vor Kriegsende, nicht mal zwei Wochen vor ihrem 35. Geburtstag.
Die stille Straße im Bötzow-Kiez trägt seit 1974 ihren Namen, vorher hieß sie Lippehner Straße, nach einer Stadt im heutigen Polen. Die einstige Käthe-Niederkirchner-Schule auf der Bötzow-Straße heißt heute Kurt-Schwitters-Schule.
-al- (August 2015)