DER ERSTE GRENZÜBERSCHREITER

„Ich war sicher, da geht etwas zu Ende“

Der Osten ist in diesem Herbst in zweierlei Hinsicht Thema. Friedliche Revolution und Mauerfall jähren sich zum 30. Mal. Und einige östliche Regionen rücken nach rechts. Das ganze Land übt sich in Erklärungsversuchen und schwelgt in Erinnerungen. Eine Begegnung mit Aram Radomski zu den kleinen und großen Momenten der Ost-Geschichte.

Aram Radomski war der Erste. Der erste Mensch, der am 9. November 1989 über den Grenzübergang Bornholmer Straße von Ost- nach West-Berlin ging. Gemeinsam mit einem Freund. Da waren die Massen, die den diensthabenden Offizier dazu drängten, die Mauer zu öffnen, noch nicht da. Die Bilder, die wir aus dem Fernsehen und den Zeitungen kennen: Die freudige Stimmung, die Erwartung, die zur Ungeduld wurde und den Grenzern schließlich keine andere Wahl ließ, als sie alle rüber zulassen. 

Als Hans-Joachim Friedrichs in den Tagesthemen jenen historischen Satz sagte: „Heute ist ein historischer Tag. Die Mauer ist auf.“, da saß Aram Radomski gemeinsam mit anderen Freunden und Bekannten aus dem Osten in einer Kneipe in Kreuzberg. Je länger der Abend, umso voller wurde diese Kneipe. Nicht etwa, dass der Wirt den klammen Ossis etwas ausgegeben hätte. Im Gegenteil: Statt wie üblich auf den Bierdeckel zu schreiben, ließ er sich die Getränke von vornherein bar bezahlen.

Friedliche Revolution 1989 Berlin Prenzlauer Berg
Aram Radomski ging am 9. November 1989 als erster über die Grenze. Der Fotograf führt heute ein internationales Unternehmen. Foto: Ulrich Wüst

WO BEGINNT DER WESTEN?

Aram Radomski hatte sich gemeinsam mit einem Freund auf den Weg gemacht, nachdem Günter Schabowski auf der legendären Pressekonferenz verkündet hatte, dass Bürger der DDR, die ausreisen wollen, dies auch können: „Ab sofort“. An der Bornholmer Straße standen erst ein Dutzend Menschen vor der Mauer. „Gehen Sie nach Hause. Stellen Sie morgen einen Antrag“, blaffte der diensthabende Grenzer. Radomski blieb beharrlich: „Ist es möglich, mit meinem Personalausweis die Grenze zu passieren?“. Nach kurzem Zögern, vielleicht Unsicherheit, vielleicht Bedrängnis, kam die Antwort: „ Wenn Sie das unbedingt wünschen, dann können Sie das machen.“ 

Eine kleine Tür, dann ein Fenster, in das sie ihre Ausweise schoben. Der Stempel. Geldumtausch. Ein langer Gang: „Wir wussten nicht, wo der Osten endet und der Westen beginnt.“ Und waren sie nun „ständig ausgereist“, wie es hieß, also keine DDR-Bürger mehr? „Ich war mir sicher, wir sind am nächsten Morgen zurück in Ost-Berlin.“ Warum eigentlich, zu diesem Zeitpunkt am frühen Abend, als alle noch rätselten: Was meint Schabowski eigentlich? Für Radomski war das ganz klar: „Es war doch spürbar, da geht etwas zu Ende.“

Was ging da zu Ende? Aram Radomski war zu diesem Zeitpunkt 26. Und aufregender, eindringlicher als dieser Grenzübertritt erscheint sein Leben davor. Vielleicht, weil jetzt, 30 Jahre später, in dieser ganzen Ratlosigkeit, in diesen endlosen Debatten darüber, warum die Ostdeutschen so sind wie sie sind, vielleicht, weil es jetzt erneut an der Zeit ist zu sprechen. Biografien, Wunden zu erzählen aus dieser DDR.

Friedliche Revolution 1989 Berlin Prenzlauer Berg
Zeitzeugnis: Die Bilder Radomskis von den Leipziger Demonstrationen im Oktober 1989 belegten erstmals im Westfernsehen die Proteste der DDR-Bürger gegen die Regierung. Hier mit weiteren Fotos online: bildstock.berlintapete.de

WANN BEGANN DAS SPRECHEN?

„Wir hatten das Schweigen“, sagt Radomski, gewissermaßen als Form des Protestes gegen die diktatorische, militärische DDR-Sprache. „Wir hatten Hoffnung und wir hatten Wut“. Er hatte auch Bilder. Er fotografierte – die DDR in ihrer einzigartigen Trostlosigkeit und in den Momenten der Hoffnung. Bilder, die heute auf Ausstellungen durchs Land reisen und in einem Online-Archiv für alle sichtbar sind. Er war in den 80er Jahren Mitglied der widerständischen Umweltbibliothek, machte Theater mit den „Zinnober“-Leuten aus Prenzlauer Berg. Bevor er aus Sachsen in die Ost-Berliner Dissidenten-Szene kam, muss da eine Menge Wut gewesen sein. Radomski saß sechs Monate im Knast. Weil er eine Frau liebte.

In den Augen ihrer Eltern, in der Denke dieses Staates DDR, war es die falsche Frau. „Wenn Sie diese Beziehung nicht beenden, dann tun wir das für Sie.“, hatte ihm sein Chef angekündigt. Kurz danach wurde Radomski zu einer Prügelei provoziert und krankenhausreif geschlagen, verhaftet, angeklagt und wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt verurteilt. „Danach habe ich mit dem Gefühl weitergelebt, nichts ist sicher.“ Bis zum 9. November 1989, als das ganze Leben für die Ostdeutschen wieder auf Null, auf Anfang gesetzt wurde. Die Reset-Taste für 17 Millionen Biografien.

Friedliche Revolution 1989 Berlin Prenzlauer Berg
Da war die Mauer schon auf: Radomski fotografierte Ost-Alltag nach und vor dem Mauerfall. Fotos (2): Aram Radomski

DUNKEL UND KALT

Und drüben, an diesem historischen Abend? Als Radomski und sein Freund die andere Seite der Mauer durchschritten, stand da ein einsames Taxi samt Fahrer, der sich wunderte, was diese DDRler so spät noch in West-Berlin wollten. Und die beiden DDRler sagten: „Wunder dich nicht, du machst heute abend wahrscheinlich das Geschäft Deines Lebens.“ Dann fuhren sie zu Bekannten nach Schöneberg, dann in die Kneipe nach Kreuzberg. Sein erster Eindruck des Westens in dieser historischen Nacht? Dunkel und kalt, wie auf der anderen Seite auch. Irgendwie profan. „Danach soll ich mich jetzt gesehnt haben?“ fragte er sich.

Der Erste im Westen. Doch eigentlich ist Radomski bekannt, weil er die Bilder hatte. Er war es, der gemeinsam mit seinem Freund Siegbert Schefke die Zehntausenden Demonstranten am 9. Oktober in Leipzig filmte. Bilder, die rüber geschmuggelt wurden und im Westfernsehen erstmals belegten: Ja, da drüben, in der DDR, gehen die Menschen für ein gerechtes, freies Land auf die Straße. Und dieser marode Staat schickt seine Soldaten. Und gibt den Schießbefehl dann doch nicht.  

Am Vorabend des 9. November 2019, 30 Jahre danach, erhält Radomski dafür den Preis der Deutschen Gesellschaft für Verdienste um die deutsche und europäische Verständigung, für „seine mutige Haltung“, wie es in der Begründung heißt. Angela Merkel wird wahrscheinlich dabei sein. Das Bundesverdienstkreuz hat er schon, als „stiller Held“. 

-al-,  Nov. 2019