Ein ganzes Leben und Hund Fritz

Magazin Prenzlauer Berg Zeitung
Ohne Hund Fritz geht nichts, also muss er auch mit aufs Foto: Brigitte Hartung. Foto: al

Sie schreiben Kiezgeschichte und Kiezgeschichten: Die Menschen und die Orte, an denen sie leben oder arbeiten. Diese Geschichten können so vieles sein: Absurd oder liebenswert, voll Dramatik oder ganz alltäglich. Wie das Leben eben.
Eine dieser Kiezgeschichten spielt seit fast 70 Jahren in Prenzlauer Berg. Das doppelte Leben von Brigitte Hartung: Als Lehrerin und Fuhrunternehmerin.

 

Wieviel Geschichte steckt in einem Menschen? 83 Jahre können kurzweilig sein wie eine  Stunde an einem launigen Sommernachmittag. Kurzweilig, atemlos und unglaublich bewegend.
83 Jahre also, 61 davon in der gleichen Wohnung, fast 70 in Prenzlauer Berg. Siebzig Jahre. Wie der Prenzlauer Berg damals wohl ausgesehen hat, im Dezember 1945, als Brigitte Hartung gemeinsam mit ihrer Mutter und der jüngeren Schwester hier ankam? Vertrieben aus dem Osten. Flüchtlinge, die bei Bekannten eine Unterkunft suchten.
Brigitte Hartung war 14 damals, die kriegszerstörte Großstadt war für das Mädchen vom Bauernhof eben erstmal eine große Stadt. An die Ankunft erinnert sie sich noch sehr genau, auch heute, fast 70 Jahre später. An den Neubeginn in der Fremde, allein mit Mutter und Schwester. Der Vater kam erst Jahre später aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft. „In amerikanischer Kleidung und mit amerikanischen Zigaretten“. Sonst hatte er nichts. Viel mehr als das, was sie auf dem Leibe trug, hatte auch seine Familie nicht aus der Heimat mitnehmen können.
Brigitte Hartung erzählt ihr Leben in vielen kleinen Geschichten, die voller Geschichte stecken. „In der Schule waren wir die Mädchen vom Lande“, sagt Frau Hartung, „wir hatten ja noch so Zöpfe, wissen Sie?“
Das Mädchen vom Lande wurde bald Lehrerin, „Dorfschullehrerin“ hatte sie als Berufswunsch geschrieben. „Ich wollte was tun gegen die Ungerechtigkeit zwischen Armen und Reichen in den Dörfern“, sagt sie. Wir schreiben das Jahr 1950.
Sie wurde Lehrerin in Berlin, Prenzlauer Berg. Erst als Assistentin, ihr Diplom als Fachlehrerin für Mathematik machte sie im Fernstudium. Bekam währenddessen drei Kinder. Sie blieb Lehrerin, 41 Jahre lang, 34 Jahre davon als stellvertretende Direktorin, sechs Jahre davon als Leiterin und Inhaberin des Fuhrunternehmens „Meta Lorei“ in der Kollwitzstraße. Den Betrieb mit Pferdefuhrwerken hat sie nach dem Tod ihrer Eltern weiter geführt. Von der jahrzehntelangen Existenz des Unternehmens künden noch heute Bildtafeln im Haus in der Kollwitzstraße 74. Auch die Stallgebäude sind noch da, für andere Zwecke ausgebaut inzwischen. „Und in der Kollwitzstraße 77 war der Kuhstall“. Dort gab es auch Hühner, wurde Heu und Stroh für die Türe gelagert, stand die Häckselmaschine. Die vertriebenen Bauern aus Kolberg lebten ihr Landleben auf ihre Weise weiter, mitten in der Großstadt. 18 Pferde zogen die Fuhren mit Schutt und Baumaterialien.
Sie zogen auch Schulkinder von Brigitte Hartung. Denn die passionierte Reiterin und Pferdenärrin kutschierte ihre Schüler zu besonderen Anlässen mit dem Pferdewagen quer durch Berlin, zum Alexanderplatz zum Eisessen, zum Weißen See zum Baden. „Die Kinder der Nachbarschule waren darauf neidisch, da habe ich sie eben auch gefahren“.

Magazin Prenzlauer Berg Zeitung
Frau Hartung 1982 mit ihrem Fuhrwerk in der Danziger Str., Foto: C. Timm

Die Pferde-Verliebtheit hat sie ihren drei Kindern weitergegeben, sie waren und sind ausgezeichnete Reiter, gewannen Berliner und DDR-Meisterschaften. „Mein Flur war voll mit Wimpeln und Medaillen“.
Brigitte Hartung, die reitende Lehrerin, schulte in ihren 41 Jahren Berufs-Jahren wohl an die Tausend Kinder nicht nur in Mathematik. „Die schwierigen Fälle, die brachten sie alle zu mir.“ An ihre Schule in der Eugen-Schönhaar-Straße war ein Heim angeschlossen, Kinder aus problematischen Elternhäusern waren in den Klassen von Frau Hartung. „Die Kinder, die können ja nichts dafür“. Inzwischen leben sie, längst erwachsen, mit eigenen Kindern und Großenkeln, in der ganzen Welt verstreut. Ihre allererste Klasse veranstaltet alle zwei Jahre Klassentreffen. Natürlich wird Frau Hartung dazu eingeladen.
Noch so eine kleine Geschichte, die vieles birgt. Unlängst war Frau Hartung im Restaurant Essen, da schaute sie ein Mann vom Nachbartisch die ganze Zeit an. „Ich hab mich schon gefragt, was der von mir will.“ Dann stellte sich heraus, dass es ein ehemaliger Schüler von ihr war. Die Kinder seiner Begleiterin hatte sie auch unterrichtet. Solche Begegnungen gibt es viele, kein Wunder, bei rund Tausend Kindern, die in ihre Klassen gingen. Auf dem Markt wird sie angesprochen, beim Einkaufen. Manchmal dauert das Erkennen eine kleine Weile. „Naja, alle Gesichter kann ich mir dann doch nicht merken.“
1985 übernahm Brigitte Hartung den Fuhrbetrieb der Eltern. Als Lehrerin arbeitete sie weiter, weniger Stunden eben. Möbel hat sie mit den Pferden gefahren, ganze Umzüge, Transporte jeglicher Art. Heute kaum mehr vorstellbar, dass Pferde Wohnzimmer-Schränke durch Berlin kutschieren. Eine ihrer Schülerinnen, früher ein besonders schwieriger Fall, wurde ihre Mitarbeiterin. Sechs Jahre lang war Brigitte Hartung Fuhrunternehmerin. Da war sie um die 60.
1991 hat sie den Fuhrbetrieb dann aufgegeben, er rentierte sich nicht mehr. Nach dem Mauerfall ersetzten nach und nach auch in Ost-Berlin größere Autos die letzten Pferde als Transportmittel. Ein schwerer Schritt für Brigitte Hartung. „Das war, als hätte ich ein zweites Mal die Heimat verloren.“
Und heute? Die erwachsenen Töchter sind da und eine ehemalige Schülerin, zu vielen Klassentreffen wird sie noch immer eingeladen. In der Lehrer-Gewerkschaft ist sie, auch in der Volksolidarität. Ihr Wohnhaus wird gerade saniert. Und dann ist da auch noch Hund Fritz, aus dem Tierheim, Begleiter und Beschützer. Ein ausgefülltes Leben, mit 83 Jahren. „Ja, das ist nun mein Leben.“

-al- (Jul 2014)