FIRMENGESCHICHTE PRENZLAUER BERG (TEIL 15)

Der geteilte ÖPNV

In der Reihe Unternehmensgeschichte in Prenzlauer Berg befasst sich Rolf Gänsrich mit dem Öffentlichen-Personen-Nahverkehr. Die Gesamtheit des ÖPNV in Berlin ist sehr vielfältig, in der ehemals geteilten Stadt dazu ziemlich kompliziert. 

Die Eisenbahn zählte schon immer zu einem der größten Arbeitgeber der Stadt. Um überhaupt fahren zu können, musste sie einst Erz, Stahl, Schienen, Kohle für die Maschinen der Fahrzeughersteller und für die eigenen Loks transportieren. Und sie musste die Menschen, die für sie arbeiteten, transportieren. Auf Stellwerken, Bahnhöfen, im Fahrkartenverkauf, Fahrkartenentwertung und Bahnhofszugang arbeiteten die "Bahner" z. T. in rollenden Schichten. 

Im Potsdamer Abkommen von 1945 besaß die Reichsbahn die alleinigen Betriebsrechte für Eisenbahn in ganz Berlin. Das machte den Betrieb mit der zunehmenden Spaltung der Stadt nicht einfacher und als die Berliner Mauer gebaut wurde, zerfiel das Bahnnetz um den einstigen Bahnknoten Berlin in zig Stücke. Stellwerke und Signale mussten innerhalb weniger Tage neu verkabelt, Gleise und Stromschienen neu gebaut werden. Am 5. Dezember 61 kam es zu einer geglückten Flucht bei einem Grenzdurchbruch mit einem Personenzug von Albrechtshof nach Spandau. Darauf hin wurden dort die Gleise demontiert und die Züge von Westberlin nach Hamburg fort an über Staaken, Wustermark und Bredow umgeleitet. 

Mit dem Mauerbau befand sich auf der erst am 14.08.50 S-Bahn-elektrifizierten Strecke nach Falkensee ein einziger Zug, der bis Oktober 61 auf der einen Station bis Albrechtshof pendelte. Am Bf. Teltow stand ein Zug. Hier wurde kurz nach dem Mauerbau die Strecke noch einmal unter Strom gesetzt und die Absperrungen beseitigt, um den dort isoliert stehenden Zug zum BW Nordbahnhof, das sich auf Ostberliner Gebiet aber im Westberliner Netz befand, bringen zu können, denn einen anderen Weg gab es nicht. 

#ÖPNV #PrenzlauerBerg
Großmutter, Mutter und Bruder des Autors 1974 auf einem Vorortbahnhof von Berlin, Foto: rg

Vom Restnetz abgeschnitten war auch das Stück Hohen Neuendort – Oranienburg. Ab 19.11.61 war das Stück Blankenburg – Hohen Neuendorf befahrbar. Zwischen Karower Kreuz und dem bis dahin seit 1955 nur vom „Sputnik“ auf dem Außenring im Dampf- / Dieselbetrieb angefahrenen Bf. Schönfließ fuhren die S-Bahnen auf den Gütergleisen zwischen langsamen Güterzügen und schnellen Fernbahnen. Ihr eigenes Gleis bekam die S-Bahn in diesem Bereich erst 1982, als man die Fernbahngleise Oberleitungselektrifizierte. Die S-Bahn fährt mit 750 Volt Gleichstrom, die Fernbahn mit 15.000 Volt Wechselstrom. Beide Systeme nutzen die Fahrschiene als Gegenpol. Das gleichzeitige fahren von S-Bahnen und E-Loks auf denselben Gleisen ist zwar möglich, wie man am Bf. Birkenwerder sieht, aber technisch höchst aufwendig. Deshalb trennt man beide Systeme, wenn möglich räumlich. 

Bis auf den Abschnitt Hennigsdorf – Velten wurden alle anderen um Westberlin gelegenen S-Bahnstrecken innerhalb weniger Wochen auf Dampf- oder Dieselbetrieb umgestellt. Dass es einen Inselbetrieb auf der nur vier Stationen umfassenden Strecke von Hennigsdorf nach Velten gab, hing damit zusammen, dass es in Velten eine Wartungshalle für S-Bahnen gab, die bis heute von Bahnherstellern benutzt wird. Man hielt deshalb am Inselbetrieb bis September 1983 fest. Von den Bahnherstellern Bombardier und Stadler wird bis heute eines der Gleise der Strecke mit Stromschiene für Erprobungsfahrten, auch für neue Züge der Berliner S- und U-Bahn genutzt. 

#PrenzlauerBerg
Vielerorts finden sich noch Überreste zur Geschichte des ÖPNV in Berlin, wie hier Gleise der Stettiner Bahn. Foto: rg

Noch vor der Übernahme der S-Bahn in Westberlin am 09.01.84 wurden über die Fernbahngleise am Bf. Friedrichstraße die im Volksmund "Rundköpfe" genannten moderneren S-Bahnzüge aus den 30er-Jahren nach Ostberlin überführt, sodass die BVG-West nur die älteren "Stadtbahner" in ihren Bestand bekam. Die im Volksmund "Toaster" genannte S-Bahn-Baureihe 480 wurde von einem Firmenkonsortium ab 1984 in Tegel gebaut. 

Zur Übergabe der Züge an die BVG musste die Reichsbahn informiert werden, weil ab Wollankstraße bis Gesundbrunnen Strom aus Ostberlin bezogen wurde. Da diese neuen Züge beim bremsen Strom ins Netz zurück speisten, die Gleichrichterwerke im Osten dafür technisch aber nicht ausgerüstet waren, gab es deshalb auf diesem Abschnitt immer wieder Probleme. 

Bis Ende der 70er-Jahre hatte die S-Bahn in Westberlin ein Defizit von rund einer halben Milliarde D-Mark eingefahren, das von der DDR getragen wurde. Deshalb musste in Westberlin gespart werden. Die Betriebszeit wurde verkürzt, Takte weiter ausgedünnt, Personal entlassen. Das führte zu einem ersten Streik der "Bahner" 1980, in dessen Ergebnis die meisten Strecken in Westberlin eingestellt und weiteres Personal entlassen wurden. Dies führte zu einem zweiten Streik 1982. Nun wollte die Reichsbahn die S-Bahn in Westberlin nur noch loswerden und die BVG bekam 1983 vom Senat den Auftrag, ab 1984 die S-Bahn in Westberlin zu betreiben. Das Gleisnetz der S-Bahn gehörte dabei weiter formal der Reichsbahn. Mit dem ihr verbleibenden Fern- und Güterverkehr fuhr ab 1984 aber die Reichsbahn in Westberlin endlich Gewinne ein. 

Rolf Gänsrich, Februar 2021