Stille Helden

Grabstein von Agnes Wabnitz auf dem Friedhofspark Pappelallee
Grabstein von Agnes Wabnitz auf dem Friedhofspark Pappelallee

Zweiter September 1894: Durch  Pappelallee, Kastanien­allee, Elbin­ger (heute Danziger) und Schön­hau­ser Allee wälzt sich eine wogende schwarze Menschenmenge. Kränze tragend ziehen sie zum Friedhof der Frei­religiösen Gemeinde in der Pappelallee. Die Schneiderin Agnes Wabnitz wird zu Grabe getragen. Sie hatte den Freitod gewählt, um einer weiteren Gefängnis­stra­fe wegen ihrer unzähligen politischen Aktionen zu entgehen. Ihr Leben war voller Kampf. Als eine der ersten Frauenrechtlerinnen führte sie die gerade erstarkende Frauenbewegung an. Sie solidarisierte sich mit allen, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpften. Es müssen viele gewesen sein, denn Chro­nisten berichten, dass es an die 60.000 Menschen waren, die zu ihrer Beerdi­gung kamen und dass an ihrem Grab 630 Kränze lagen; 80 mehr als bei der Bei­set­zung Kaiser Wilhelm I. sechs Jahre zuvor.Heute ist jener Friedhof ein Friedhofs­park und die Zeit der großen Helden scheint vorbei. Die heutigen Helden, jene der Medien, sind etwas kurzatmig - manche sind schon nach ein paar Wochen wieder verschwunden. Andere, vielleicht wirkliche Helden, tauchen meist gar nicht erst auf. Es sind die stillen Helden, die wir oft nicht wahrnehmen. Sie sind nicht medien- aber alltagstauglich. Sie kümmern sich und arbeiten oftmals in Grenzbereichen des men­schlichen Lebens: bei den Kranken und Toten.

Karl: „Du musst ditt Leben lieben“
Karl: „Du musst ditt Leben lieben“

Vielleicht sollte ich, stellvertretend für alle, über die Arbeit der examinierten Krankenschwester Anne sprechen. Nach ihrer Lehre war sie mehrere Jahre als Krankenschwester tätig. Dann eine alte Leidenschaft. Sie wollte die Töpferei zu ihrem Beruf machen. Das schaffte sie und wurde eine Künstlerin. Später ging es nicht mehr so gut. Dann die Frage, wie überlebt man. Nun, sie ist gelernte Krankenschwester …Eine befristete Anstellung war schnell gefunden. Sie pflegte vom Tode gezeichnete Kinder. Die Personaldecke in den Krankenhäusern ist heutzutage kriminell niedrig. Die Ärzte und Schwestern leisten dort mit minimalem Personal Maximales. Anne investierte so viel Kraft und Liebe in ihre Arbeit in einem Krankenhaus-Hospiz, dass sie fast selbst darüber zerbrach. Dann stand sie allein da. Fast niemand hält das länger als zwei Jahre aus. Wie praktisch für die Krankenhausaktionäre. Sie hatte nur einen befristeten Vertrag.

 

Aus einer Hospiz-Satzung: Eine Familie mit einem kranken Kind benötigt eine umfassende Betreuung und Unterstüt­zung, die weit über die medizinischen Therapien hinausgeht. Da solche Leis­tun­gen nicht in erforderlichem Maße vom staat­lichen Gesundheitssystem erbracht und finanziert werden, hilft diese STIFTUNG den kranken Kindern, deren Ge­schwis­tern, Eltern und weiteren Familien­an­gehörigen: schnell, unbürokratisch und effektiv. Die Stiftung fördert, errichtet und betreibt bundesweit patientenbezogene, ganzheitliche Einrichtungen.


Klingt nach Hoffnung. Wir alle kennen eigentlich die Realität und ahnen das Finale. Man muss schon ein außergewöhnlicher Mensch sein, um mit diesem Wissen diese Arbeit jeden Tag neu zu beginnen. Denn das Ergebnis ist manchmal nur die Erlösung aller Beteiligten.Wir leben in seltsamen Zeiten. Wir leben in lauten Zeiten. Diejenigen die leise sprechen kommen anscheinend nicht weiter.Unser Prenzlauer Berg ist ein interessanter Ort. Manche wollen hier nicht weg. Alles so schön bunt. Auch nach dem Tode. Doch wie stellen sie das an? Ganz einfach. Sie kaufen sich ’ne Grabstelle auf dem Friedhof. Und Friedhöfe gibt es hier fünfe. Platz ist also vorhanden. Haben sie den gefunden, dann bestellen sie sich einen Bildhauer und stellen ihr letztes Grundstück mit – was auch immer sie Kunst nennen – voll. Und wer sich nicht so wichtig nimmt, der wird eingeäschert. Dann geht es ab auf die grüne Wiese. Verscharrt und vergessen. Dann gibt es keinen Gedenk­stein, kein Schild. Die Verwandten können meist nichts beitragen. Die haben mit sich zu tun. Die Zeiten sind hart. Und die Stadt hat kein Geld für ihre Toten. Es reicht ja kaum für die Le­ben­den. Wo kommt jetzt also die professionelle Hilfe eines Bestatters her? Ich rede über die Lebenden. DIE brauchen Beistand. Denn es schaffen nur wenige, sich klug auf ihren Tod vorzubereiten. Ihre Dinge zu ordnen. Vom Testament bis hin zu einer anständigen Versiche­rung.

 

Karls Telefon klingelt und er meldet sich dezent und freundlich. Wo? Wer? Wann? Welche Adresse? Ein Todesfall. Wieder einmal. Darf ich vorstellen: Karl. Seines Zeichens Bestatter. Und auch über ihn will ich reden. Bestatter war er ja nicht immer. Karl ist Jahrgang 1941. Da ist schon ne Menge Le­ben dazwischen. In der Wisbyer Straße geboren, hat er sein Leben lang den Kiez nicht verlassen. Jedenfalls wohn­technisch gesehen. In den Acht­zigern des letzten Jahrhunderts war er der Sektorenleiter Brandschutz. In diesem Jahr feiert er sein 15-jähriges Jubi­läum. Er musste ’ne Menge neue Gesetze lernen. Seinen Umgang mit den Men­schen neu definieren. Doch da er auch vorher schon mit brenzligen Situationen fertig geworden war, ging es recht schnell. Trauernde Menschen sind in einem emotionalen Ausnahmezustand. Man darf die Leute eben nicht überfallen. Sie nicht mit falschem Mitleid zuschütten. Menschen sind in solchen Situationen oft ein wenig hilflos. Aber sie spüren genau, ob jemand wirklich helfen will oder nur den überteuerten Sarg loswerden möchte.Es ist ein sensibles Ding. Auf der einen Seite gilt es die Trauer der Hinter­blie­benen zu respektieren. Andererseits muss er jetzt mit Zahlen hantieren. Muss geschäftlich werden. Die Verbringung des Toten als Deal? Es sind die Kleinig­keiten, an denen man verzweifeln könnte. Und da gibt er unbürokratisch Hilfe. Wussten Sie eigentlich, dass Sie den Bestatter frei wählen können? Auch wenn der Verstorbene schon von einer anderen Firma abgeholt wurde! Erst ein Angebot machen lassen; eines ohne Sternchen in jedem dritten Wort. Aber wer beschäftigt sich denn schon zu Lebzeiten damit? In guten Zeiten eher wenige. Natürlich gibt es Gerüchte, dass alles sehr teuer wäre. Man zähle doch nur zusammen: die Grabstelle, der Sarg, die Sänger, der Redner, die Blumen, die Nach­feier, die Auflösung aller Verbind­lichkeiten …Hierfür hat er einen Merkzettel parat. Was tun im Fall des Falles? Was braucht man an Papieren etc. …„Du musst ditt Leben lieben,“ sagt Karl, „um mit dem Tod zurechtzukommen.“ Natürlich gibt es auch Situationen, in denen selbst er mal wegguckt. Sich fragt, warum jetzt die oder der. Aber dann fallen ihm die guten Momente ein. Die geben ihm dann Kraft. Und es gibt die skurrilen Momente, die ihn schmunzeln lassen: Es muss im ersten Jahr seiner Selbstständigkeit gewesen sein. Der Laden ist seit kurzem geöffnet. Es klingelt, die Tür geht auf. Ein Mann steht verloren im Türrahmen. Karl stürzt auf ihn zu, greift seine Hand und spricht mit fester Stimme. „Mein tief empfundenes Beileid!“ Der Mann im Türrahmen schüttelt den Kopf, schaut ihn verwundert an und meint: „Ick wollt doch nur wissen, wo hier die Post is!“ Mittlerweile hat er Leute aller Schichten und Stände auf ihrem letzten Weg begleitet. Hat tiefe Einblicke in die men­schliche Seele genommen. Ist nicht daran verzweifelt und hält mit seiner freundlichen Art den notwendigen Ab­stand für die letzte aller menschlichen Dienstleistungen. Die beiden sind exemplarisch. Und wahrscheinlich gibt es von ihrer Art viel mehr als wir denken. Deswegen dieser Artikel.

Mein Dank geht speziell an Anne P. (Krankenschwester) und Karl D. (Bestatter)    

 ✒ Kapaulke (Mai 2011)

PS: Nach Agnes Wabnitz wurde eine Straße in der Prenzlberger Enklave „Alter Schlachthof“ (Entwicklungsgebiet hinter dem S-Bhf. Landsberger Allee) benannt.