Zeiten-Schichten unter Regentropfen

Zeitung Prenzlauer Berg Magazin
Eine Atmosphäre wie in einem Gangster-Film: Die alten Lampen zaubern das mystische Licht vergangener Zeiten in den Gleimtunnel.

Seit genau 111 Jahren verbindet der Gleimtunnel die beiden Stadtteile Prenzlauer Berg und Wedding, mit einer Zwangspause während der Zeit der Berliner Mauer. Seit 104 Jahren trägt er seinen Namen. Das imposante, doch morbide Bauwerk weiß also Teilungs- und Verbindungsgeschichten zu erzählen. Tunnelgeflüster des Jahres 2015.

Es regnet, auch im Tunnel. Dicke Tropfen fallen von der Decke, platschen auf Geh- und Fahrradweg und in die Kapuzenkragen der heimkehrenden Schulkinder. Das Regenwasser hat sich oben, in Erdreich und Boden der ehemaligen Eisenbahntrasse gesammelt, jetzt kommt es durch die Ritzen des stählernen Trägerrostes herunter auf den Tunnel-Boden, macht Fußgänger nass und Autos. Zahlreich sind die motorisierten    Pendler, die von Ost nach West und West nach Ost übers Kopfsteinpflaster donnern. Ihnen platschen die Tropfen aufs Frontglas. Von dort schieben die Scheibenwischer sie flott weg. Die Radfahrer kennen die Wasserlöcher und fahren ihnen im Slalom davon.

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Bauwerk-Detail: Antikisierte Elemente zieren die 80 Säulen.

Der frühe Feierabendverkehr des Jahres 2015 ist eine beidseitige Bewegung – raus in den Wedding, rein in den Prenzlauer Berg und entgegengesetzt. Vor 111 Jahren, als der Gleimtunnel nach zweijähriger Bauzeit eröffnet wurde, war die Bewegung einseitiger. Vor allem Arbeiter aus dem Prenzlauer Berg durchquerten den Tunnel auf ihrem Weg zur Arbeit in die Weddinger AEG- oder Schwartzkopff-Werke. Frühmorgens rein, abends raus. Diese Arbeiterbewegung zeigen noch heute Straßenschilder an, die in blau-weiß-beschriftet, den Weg weisen. Die Schilder, Rudimente eines temporären Kunstprojekts, symbolisieren zugleich den Weg in die Freiheit, den die Menschen 1990 nach knapp 30 Jahren Eingesperrtsein nehmen konnten. Der Gleimtunnel, auf Prenzlauer-Berg-Seite von der Mauer verriegelt, war wieder offen: Jetzt konnten sie endlich wieder raus - und unbehelligt und unbeschwert wieder rein.
Das Bauwerk Gleimtunnel mit seinen 111 Jahren birgt also große kulturelle und politische Geschichte, es erzählt von den Lebensformen in Berlin um 1900 ebenso wie von den politischen Systemen ein halbes Jahrhundert danach. Es ist als Baudenkmal unter Schutz gestellt.
Die knapp 30 Jahre der Sperrung haben die Finesse und Ausgeklügeltheit seiner Konstruktion konserviert. Das Bauwerk ist heute eine von nur zwei vollständig erhaltenen Eisenbahnbrücken aus der Zeit der beginnenden Moderne. 80 gusseiserne Säulen tragen den stählernen Brückenrost. Entwickelt wurde dieses Modell um 1882 zum Bau der Berliner Stadtbahn, gebaut bis um 1910. Die antikisierte Anmutung der Säulen dient ihrer Statik. Oben, direkt unter der Decke, verbreitern sich die Säulen in Köpfe mit Blätter- und Ornamentenschmuck, ein darin verborgenes Kugelgelenk fängt die Erschütterungen ab. Drüber fährt indes schon lange kein Zug mehr. Vor genau 30 Jahren, 1985, stellte die Deutsche Reichsbahn den Verkehr ein. Bis dahin waren auf der Strecke der sogenannten Nordbahn Güterzüge Richtung Bahnhof Bernauer Straße/Schwedter Straße und weiter bis Neubrandenburg und Stralsund in mehr oder minder dichtem Takt gefahren. Heute wuchern Gras und Bäumchen im Gleisbett, die Spur wird nur noch für gelegentlichen Privatverkehr genutzt.

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Von der Zeit überlagert: Licht im Gleimtunnel. Fotos (3): al

Wem gehört das Gelände? Zwei potenzielle Nachnutzer der Deutschen Reichsbahn schieben sich die Besitzverhältnisse hin und her. Dem Denkmalstatus des Tunnels tut dies zunächst keinen Abbruch, doch möglicherweise seiner weiteren Instandhaltung. Vom Wedding her rückt ihm ohnehin das 21. Jahrhundert auf den Pelz. An seiner westlichen Seite soll die Zufahrtsstraße für das geplante und umstrittene Wohngebiet auf dem nördlichen Mauerpark entstehen. Am Geländer der Brücke flaggen gelegentlich die Protestbanner der Anwohner aus Prenzlauer Berg und Wedding, dreisprachig.
Unten, im Tunnel, durch den der Regen tropft, zaubert das gelbliche Licht der alten Natriumdampflampen eine mystische Kulisse. Hier hätte Sergio Leone sein Gangster-Epos „Es war einmal in Amerika“ drehen können: Die Jugendgangs verstecken hinter den Säulen ihren geschmuggelten Alkohol und stehen sich auf der 130 Meter Länge des Tunnels kampfbereit gegenüber: Im Streit um Schutzgelder, Macht und die schönsten Mädchen.
Doch ein Tunnel ist ein Tunnel und kein Schauplatz. Sein Sinn und Zweck ist die Durchquerung von A nach B, rein und raus. Die Pendler und Passanten, die den Regentropfen entwischen, haben für solche Phantasien ohnehin keine Zeit, keinen Blick für die feinen, mystischen Details des Bauwerks. Es ist auch viel zu laut. Die Wände verstärken das Donnern der Autoreifen übers Kopfsteinpflaster. Als der Senat vor einigen Monaten die Berliner dazu aufrief, Lärmschwerpunkte der Stadt zu benennen, gingen auch viele Krach-Meldungen der Gleimstraßen-Anwohner ein. Im Tunnel herrscht Tempo 30, direkt nach der Ausfahrt im Wedding beschleunigen die Fahrer gern.
Einmal im Jahr indes wird der Gleimtunnel tatsächlich zum Schauplatz eines fröhlichen Spektakels. „Ost meets West“ heißen die Gleimtunnelpartys, die seit 2007 jährlich in der Nacht zum 3. Oktober an die Zeit der deutschen Teilung und vor allem ihre Überwindung erinnern. Bis zu 1000 Menschen finden sich dann unter der Tunneldecke zum Tanzen und Feiern. Im vergangenen Jahr musste das symbolische Event von der Straße erstmals ausfallen, weil auf der Weddinger Seite die Fahrbahn saniert wurde. Die beiden Veranstalterinnen vertrösten ihre Fans aus Ost und West indes auf den 2. Oktober 2015. Dann wird der Tunnel mit seiner wechselvollen Geschichte wieder in eine fröhliche Gegenwart gehoben. Nur der Regen, der sollte sich in dieser Nacht zurückhalten.
Katharina Fial (Feb 2015)