MAUERFALL-GESCHICHTEN (1)

Auf einem Dach in Ost-Berlin

30 Jahre ist das her. Rückt in die Ferne und bleibt doch so konkret, dieses Datum: 9. November 1989, Mauerfall. Wieviel Mauerfall tragen wir in uns? Welche Erinnerungen hat der 9. November  hinterlassen, welche Veränderungen in unserem Leben? Stimmen aus Prenzlauer Berg, knapp drei Jahrzehnte danach. Heute: Sophie Weise.

 

Sophie Weise hat ganz genaue Erinnerungen an den 9. November 1989. Und die haben mit einem Dach zu tun. Dass jemand sich so genau an den Tag, besser, an die Nacht, des Mauerfalls erinnern kann, mag zunächst nicht verwundern. Bei Sophie Weise schon. Sie ist zu diesem Zeitpunkt vier Jahre alt. Und das Dach ist ein altes Dach, nur durch eine schmale Dachluke zu erreichen, die von einer rostigen Stange gehalten wird.

„Hier möchte ich bleiben. Hier bin ich bestimmt nie allein“. Mit dieser Feststellung beginnt das Berliner Leben von Sophie Weise, ein Dreivierteljahr vor dem 9. November. Die Mutter zieht mit der Tochter und dem einige Jahre älteren Sohn von der Mecklenburger Küste in den Prenzlauer Berg, Wins-Viertel. Die vielen Menschen auf den Straßen, die das Kind in Berlin sieht, verschrecken sie nicht. Im Gegenteil. Sophie fühlt sich sofort wohl, Prenzlauer Berg wird ihr Zuhause. Das wird es fortan bis heute bleiben, auch, wenn sie zwischenzeitlich woanders lebt. 

Mauerfall Berlin Prenzlauer Berg
Sophie Weise erlebte den Mauerfall als Vierjährige. Heute lebt und arbeitet sie in Prenzlauer Berg. Foto: SW

Sophie Weise zieht Anfang des Jahres 1989 nach Berlin, da ist vom historischen Ereignis ein paar Monate später noch nichts zu ahnen. Es brodelt und grummelt wohl schon im Volke, das im Spätsommer und Herbst 1989 dann auf die Straße gehen wird. In Prenzlauer Berg machen Dissidenten unter dem Schutz der Kirche oder der Kunst auf die Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten des Staates aufmerksam. Doch noch geht das gewohnte sozialistische Leben seinen Gang.

 

DER NEUE ALLTAG

„Kastanien kann man essen?“ Eine zweite Erinnerung von Sophie Weise. Da ist die Mauer schon gefallen, gibt es plötzlich Dinge zu kaufen, die es vorher nicht gab. Auch der Kiez verändert sich bereits: Auf dem Weg zur Kita öffnen neue, unbekannte Läden, öffnet eine Pizzeria. 

Am 9. November 1989 nun, abends, wird das vierjährige Kind Sophie wach. Die Türen stehen offen, niemand ist in der Wohnung. Sophie sucht die Mutter, hört schließlich Stimmen oben aus dem Treppenhaus und steigt hinauf. „In meiner Erinnerung ist es laut, aber meine Mutter sagt, es war gar nicht laut, alle waren still und gebannt.“ Sophie folgt den Stimmen, schließlich klettert das Mädchen auf die Feuerleiter, durch die Dachluke – und wird von der erschreckten Mutter oben in Empfang genommen. Auch andere Erwachsene sind da und schauen gen Westen. Sie schauen, was sich so tut an der Mauer. Deren Öffnung verkündete am späten Abend Hans-Joachim Friedrichs in den ARD-„Tagesthemen“: „Heute ist ein historischer Tag.“

Winsstraße Berlin Prenzlauer Berg
Dächer der Winsstraße, 1989 noch nicht ausgebaut. Ließ sich von hier hinter die Berliner Mauer schauen?

Viele Menschen aus Ost- und aus West-Berlin zieht es an die Grenze, weil sie schauen wollen, ob die Mauer tatsächlich offen ist – und wir wissen um die Vorgänge an der Bornholmer Brücke, wo ein Grenzpolizist schließlich tatsächlich den Befehl zur Maueröffnung gibt. Andere Menschen bleiben vor dem Fernseher. Andere, wie Sophies Mutter, steigen mit Freunden aufs Dach und schauen aus der Ferne, freuen sich im Stillen unter dem Himmel Ost-Berlins. 

Sophies älterer Halbbruder hingegen bekommt von der Mauer-Öffnung zunächst nichts mit. Er ist zu der Zeit bei der Armee, hat keinen Zugang zu freien Nachrichten. Er wird es dann sein, der mit der kleinen Halbschwester nach West-Berlin fährt, am Kudamm shoppen und essen geht. „Dass in der Tüte mit dem Fast-Food-Essen auch noch Spielzeug war, das war für mich bis dahin unvorstellbar“. Der Halbbruder wird es auch sein, der mit der inzwischen erwachsenen Halbschwester ein Mauerfall-Jubiläum der besonderen Art feiert: Als zum 25. Jahrestag der einstige Grenzverlauf mit Luftballons nachgezeichnet wird, die dann in den Himmel steigen – leicht und frei – läuft er mit Sophie diese Strecke ab. Und sie, die doch so wenig vom Leben vor dem Mauerfall aus eigener Erfahrung weiß, ihr geht dieser Spaziergang unter die Haut.

 

WEIT IM OSTEN

Sophie Weise wächst in das zusammenwachsende Deutschland hinein. Die äußeren Veränderungen, die sie wahrnimmt, sind Esskastanien und Pizzeria. Und den Wandel im Leben der Eltern, Fernseher, Telefon. Die Mutter, die nun öfter in ABM-Stellen unterwegs ist, weil sie als freiberufliche Künstlerin nicht mehr genügend Aufträge bekommt. 

Als Sophie Zwölf ist, zieht die Familie in den Speckgürtel Berlins, in die Nähe Oranienburgs. Das ist deutlich Osten, und vor allem ist es Provinz. Sophie hat Sehnsucht nach Prenzlauer Berg. Mit ihrer ersten eigenen Kamera durchstreift sie die Straßenzüge des Stadtbezirks und fotografiert die maroden, verfallenen Häuser, die immer weniger werden – weil die Kieze allmählich saniert werden. 

Museum Pankow Berlin Prenzlauer Berg
Erinnerungen an die Zeit vor 1989 lauern an jeder Straßenecke in Berlin. Im Museum Pankow gibt es eine Dauerausstellung zum Mauerfall. Fotos (2): al

Am neuen Lebensort fühlt sie sich als Ost-Kind, ohne dass es etwas Besonderes oder Negatives wäre. Im Oranienburger Land ist das eben so, in den 2000er Jahren. Zum Abitur trägt sie ein T-Shirt mit einem Trabant-Aufdruck. Und geht danach sofort wieder nach Berlin, in den Prenzlauer Berg.

In Prenzlauer Berg lebt sie heute noch - nicht weit weg von der einstigen Mauer. Nach ihrer Fotografinnen-Ausbildung wird ein Fotostudio in der Lychener Straße ihr Arbeitsort. „Ich wollte immer hier leben und arbeiten. Und ich genieße einfach, dass dieser Wunsch in Erfüllung gegangen ist.“ Am liebsten durchstreift sie immer noch die Straßen, bummelt durch die einzelnen Kieze. 

Fühlt sie sich als Ostdeutsche? Über diese Frage denkt Sophie Weise lange nach, als hätte sie nicht wirklich Bedeutung in ihrem Leben. Dann antwortet sie: „Ja, schon, manchmal ist es mir anzumerken.“

-al-,  Juni 2019