KASTANIENALLEE

Die trotzige Charmante

Die Kastanienallee. Die Schöne, Abwechslungsreiche. 950 Meter von Nord nach Süd, von schick bis alternativ. Im Pratergarten gibt es Turbulenzen. Und eine TV-Dokumentation beleuchtet Kastanien-ProtagonistInnen. Ein aktueller Bummel. 

Es kommt ja immer mal wieder vor, dass sich an der Kastanienallee Widerstand regt. Da ist die alte DissidentInnenstraße ihrer eigenen Tradition verpflichtet. 1992 besetzten KünstlerInnen das Haus Nummer 77 und erreichten dessen Erhalt und Sanierung. Heute ist das Gebäude ein selbstverwaltetes Wohnprojekt, mit viel Freiraum und Kunst. Als 2011 die Fahrbahn verringert werden sollte, gründete sich eine Anwohner-Initiative und erreichte einen Kompromiss. Als 2016 mit dem Puhlmann-Hof ein Luxus-Quartier entstand, gabs Gentrifizierungsprotest. Der war am Ende weniger erfolgreich. Doch das Quartier ist längst vom großstädtischen Treiben geschluckt.

PRATER-PROTEST

Und jetzt protestiert die Pächterin des Pratergartens gegen die Sanierungspläne des Bezirksamtes. Das will den ältesten Biergarten Berlins nach den Plänen der 1950er Jahre zum Kultur- und Freizeitstandort zurückhübschen. Und hat dabei ganz vergessen, die PächterInnen in die Pläne einzubeziehen. So lange gebaut wird, soll der Gastronomie-Betrieb ruhen. Auch, wenn es Jahre dauert. Die couragierte Biergarten-Chefin verwehrte zunächst den BauarbeiterInnen den Zutritt und erstritt sich – einstweilen – vor Gericht eine Ruhepause. Wie es weitergeht, ist derzeit offen. 

Dabei kann die Kastanienallee doch auch ohne Turbulenzen schön sein. Bleibt Flaniermeile, auch wenn in diesem Jahr weit weniger TouristInnen auf ihr entlangschlendern. Allen vielberufenen und -besungenen Image-Kratzern zum Trotz spiegelt sie links und rechts, was den Prenzlauer Berg ausmacht: Ständige Veränderung mit ihren positiven und negativen Facetten. 

Casting-Allee ist sie ohnehin nicht mehr. Und „Ente-kross-gebacken“-Allee, wie sie ein Spiegel-Redakteur wegen der Asia-Laden-Dichte nannte, wird sie sicher nicht lange bleiben. Wird Zeit, dass Rainald Grebe mal wieder einen Song über die Kastanienallee schreibt. Mit einem Text, der die schöne Meile auf den zweiten Blick offenbart. Denn auch das ist ja die Kastanienallee: Im kleinen Lichtblick-Kino gibt es Independent-Filme, ein paar Schritte weiter die besten pasteis de nata von Prenzlauer Berg.

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Rasanter Einstieg: Unter der U-Bahn-Brücke der Schönhauser hindurch geht es rein in die Kastanienallee. Foto: Markus Spiske

FLANIER-FILM

Auch der Filmemacher Tim Evers hat sich die Aura der Kastanienallee erlaufen, sucht in Häusern und bei Menschen die Geschichte der Kastanienallee zu erspüren. Evers, der Berlin bereits filmisch in seinen „Schicksals-Jahren“ erkundete, stoppt nun auf der Flaniermeile von Prenzlauer Berg mit dem schönen Satz „In den vergangenen 30 Jahren wurde die Kastanienallee von einer Straße, in der man wohnt, zu einer Straße, auf der man geht.“

Also begleiten wir Tim Evers, dessen Film am 24. November im rbb zu sehen ist, die 950 Meter von der Schönhauser Allee runter nach Mitte. Treffen mit ihm zum Beispiel Otto Hauptmann. Der lebt seit 1960 in dem Haus, das sein Großvater einst gekauft hat. Zu DDR-Zeiten musste er mitansehen, wie es verfiel. 1990 wollte er es mit seinem Sohn zum Hotel umbauen, doch die Banken winkten ab. Die Hauptmanns gaben nicht auf – heute präsentiert sich ihr „Kastanienhof“ als stolzes Haus, das auch der Corona-Zeit trotzt.

WEGZUG-WEHMUT

„Von Häusern und Menschen“ heißt Evers Dokumentation zur ältesten Straße von Prenzlauer Berg. 1826 angelegt, erhielt sie ihren Namen nach den links und rechts gepflanzten Kastanien. 

Den Autoren Evers interessiert neben den Häusern und Menschen eben auch die ganz spezielle Mischung aus älterer und  jüngerer Geschichte. Der ewige Wandel Berlins, der sich auf dem Kastanien-Pflaster Schritt für Schritt erlaufen lässt: „Gehen oder bleiben – diese Frage schwebt in der Kastanienallee über allem.“ Das sei schon früher so gewesen, zeigt uns der Film und blickt auf die 1980er Jahre. Als die Gegend zum Quartier der Bohemians und DissidentInnen wurde. Viele von ihnen verließen die kränkelnde DDR Richtung Westen. „Das tat jedes Mal sehr weh.“, sagt Ronald Lippok. „Denn wenn jemand ging, ging er für immer. Und dann war da die Frage: Bleibst du? Oder gehst du auch?“ Lippok, Ex-Punk, Maler und Musiker, blieb. Bis heute lebt er in der Kastanienallee. Und ist damit ein Urgestein.

KULTUR-KLEINOD

Zu denen, die es schon länger auf der Kastanienallee gibt, gehört auch das „Vokuhila“, das Anfang des Jahres seinen 20. Geburtstag feierte. Seit vielen Jahrzehnten ist an dem Standort ein Friseursalon – und manche von Claire Lachkys Kundinnen stammen noch aus der Zeit des Vorgänger-Geschäfts. 

Die engagierte Friseurmeisterin ist auch Kulturveranstalterin, die den Kiez belebt, weil er ihr am Herzen liegt. Und sie ist längst ein Fernseh-Gesicht. Aus der Zeit des Lockdowns im Frühjahr 2020 ist sie als diejenige bekannt, die auf den Wert der FriseurInnen-Kunst hinwies. Als alle Salons geschlossen hatten, gab Lachky neben dem Plädoyer fürs eigene Handwerk auch Tipps, wie eine Frisur ohne Schnitt ansehnlich bleiben kann. Kein Wunder, dass Filmemacher Tim Evers das Team des „Vokuhila“ noch einmal in der Zeit danach besuchte. Und mit Claire Lachky darüber spricht, was auch die Gegenwart der Kastanienallee bestimmt: Steigende Mieten und die Frage nach der Bezahlbarkeit des Bleibens in der Flaniermeile von Prenzlauer Berg.

-al-, Nov. 2020

„Berlin Kastanienallee – von Häusern und Menschen“ am Dienstag, 24. November, 20.15 Uhr im rbb-Fernsehen.