20 Jahre Kiezzeitung Prenzlberger Ansichten

„Antrag auf Anerkennung der Leere als konstruktives Element ...“

Nachrichten Prenzlauer Berg 20 Jahre Kiezzeitung
Titelblatt der 241. Ausgabe

Nein, es war kein Versehen und auch kein technischer Defekt. Eine leere Titelseite kommt nicht oft vor, wenn, dann beispielsweise um gegen Zensur zu protestieren, wie im Fall des SPIEGEL in den 70er-Jahren, der WELT im Mai 2010 oder der ungarischen Zeitung Népszava im Dezember 2010. Aber das hier ist kein Protest.

Die Idee zu dem „leeren Titelblatt“ entstand durch Beobachtungen. Einer dieser Eindrücke ist ein Vergleich: der Prenz­lauer Berg in den 1990er-Jahren und heute. In jener Zeit gab es eine Menge Freiräume: sichtbare und weniger sichtbare. Sichtbar waren „Kriegs­lücken“, also Brachflächen, die als „Leere im öffentlichen Raum“ dazu einluden, hier kreative Ideen auszuleben. Mit oder ohne Genehmigung. In dieser Zeit entstanden auf diesen Flächen z.B. viele Spielplätze, Prenzlberg war unterversorgt, und soziale Projekte wie der abenteuerliche Bauspielplatz in der Kollwitzstraße. 

Die weniger sichtbare Leere bezog sich auf die marode Bausubstanz: Straßen voll mit unsanierten Häusern, deren Erdgeschossläden vielerorts leer waren. Dort gab es ebenso Kreativ-Projekte, vornehmlich Künstler, legale und illegale Cafés und Clubs, temporäre Zwischen­nutzungen, Initiativen verschiedener Coleur, Kiezläden, einige heute etabliert, andere verschwunden oder weitergezogen. 

Der Mauerpark war gerade erst „entmauert“ und lag noch im Dornröschenschlaf. Auf dem Kolle wurde am 30. April noch Walpurgisnacht gefeiert, mit riesigem Feuer ...

­Diese Beschreibung soll auf gar keinen Fall wertend sein oder ein Hohelied auf „die guten alten Zeiten“. Nein. Obwohl der Prenzlauer Berg der Stadtbezirk mit der größten Veränderungsdynamik innerhalb von 20 Jahren ist, interessiert uns hier das Konstrukt der „Leere“.

Ein weiteres Berliner Beispiel: Der ehemalige Flughafen Tempelhof. Seit er öffentlich begehbar ist (und hier mal ein Dank an die Aktivisten, die die Öffnung erzwungen haben), strömen tausende und abertausende Berliner dort hin. Warum? Es gibt sicher verschiedene Mo­ti­vationen, aber eine ist sicher die An­we­senheit der „Leere“. Wo sonst gibt es die Möglichkeit, sich auf einem so großen offenen Platz zu bewegen? Wie fühlt man sich nach einem Tag auf einem Flugplatz? Und nun wollen sie dort bauen ... und ich warte schon darauf, dass sie wieder Wege anlegen, wo man lang laufen soll, und es dauert nur einige Jahre, und dann sieht man die „realen“ Laufrouten ... Kennen Sie dass? Jede „Leere“ lädt ein Vorschriften zu machen, mach dies, mach dies nicht, laufe hier lang, laufe hier nicht lang, hier auf keinen Fall ... Es scheint so, als ob die „Leere“ nicht lange existieren kann. Ihre Macht ist so gewaltig, dass es nicht lange dauert, bis jemand sich nicht mehr bremsen kann und los plant. Ein anderes Beispiel kennen Sie bestimmt: sitzt eine Gruppe Freunde oder Familie am Tisch und kurz entsteht eine Pause, keiner sagt etwas ... Wie lange kann man das aushalten?

Nachrichten Prenzlauer Berg Flughafen Tempelhof
ehem. Flughafen Tempelhof

Sicher, unsere Köpfe sind nicht für die Leere geschaffen. Der ganze menschliche Wahrnehmungsapparat braucht Ein­drücke: etwas sehen, riechen, hören, schmecken usw. Und wenn man es schafft, bei geeigneten Meditationen diese Sinneseindrücke zu beruhigen, z.B. in einem Float-Tank (man liegt in 37 Grad warmem Wasser, der hohe Salzge­halt hält den Körper an der Oberfläche, alles ist ruhig, man sieht nichts, schmeckt nichts, usw.) dann kommen all die anderen Krachmacher: Erinnerungen, Erwartungen, innere Sinne wie Hunger, Durst, ein Ziehen im Bauch.

Es scheint also, dass die Leere äußerlich wie innerlich etwas schwer zu behandeln ist. Als ob sie Zwanghaftigkeiten offenbart, sich entweder äußerlich zu verwirklichen oder etwas innerlich auszugleichen, zum Beispiel einen Mangel. 

In der Musik existiert die Leere auch, wenn auch nur kurz. Eric Satie beispielsweise konnte einem mit seinen großen Pausen zur Verzweiflung oder ins Glück treiben. Die Leere in seinen Stücken erzeugt interessante Spannungen ... oder Robert Musil, als er feststellte: „Der geliebte Mensch scheint dort zu stehen, wo sonst etwas fehlt“. In der Philosophie heisst die Leere „Nichts“ und Jean-Paul Sartre bestimmte sie als die eigentliche menschliche Freiheit. In mystischen Strömungen des Christen­tums, die immer im Streit mit der „offiziellen“ Kirche lagen, und des Islams spielt die Leere eine Rolle, in Linien des Buddhismus genauso wie in der siloistischen Lehre. Auch einige Formen der Meditation haben die Leere als zentrales Element.

Auch bei der Gestaltung dieser Kiez­zeitung erfühlt die Leere ihren Zweck: Macht man sich Gedanken über die grundlegende Gestaltung, so muss man bei den Überschriften entscheiden: Sollen sie links beginnen oder in der Mitte stehen? Problem: Wenn sie links stehen, erzeugen kurze Überschriften ein leeres Feld auf der rechten Seite. Mit diesem leeren Feld kann das Auge nix anfangen und „hüpft“ ganz nach links, dort findet es dann was es sucht ... jedenfalls das europäische Auge. Das arabische würde weiter nach rechts hüpfen und das japanische nach unten. Aber das nur am Rande ... Also wird das Auge geleitet, die Leere lenkt es, manchmal durch Spannung, wie im Fall der Überschrift, manchmal durch Struktur wie im Fall von Absätzen, die das Lesen erleichtern, weil es einen Zwischenhalt zwischen den Zeilen zulässt.

Wenn im Juni im Pfefferberg das Gug­gen­heim Lab seine Türen öffnet, soll es nach eigener Darstellung um die „Zu­kunft urbanen Lebens“ gehen. Es wird u.a. gefragt: „Wie würden Sie den Kom­fort in der eigenen Stadt verbessern?“ Ganz einfach: Mehr Leere bitte! Wenn man die Planungen zur Bebauung des Mauer­parks oder des ehemaligen Flug­hafens Tempelhof sieht, möchte man rufen: Hey Leute, lasst doch mal ... lasst doch mal etwas frei und offen, ungenutzt, ohne Einschränkungen, frei zum Luft holen, frei zum Ausleben ... 

Als sich der Vikar Reinhard Lampe 1986 als Protest gegen die Mauer in der Eberswalder Straße nur im Lendenschurz bekleidet an ein offenes Fenster stellt (siehe Titelfoto auf Seite 12) und kurze Zeit später verhaftet wird, schreibt er einen Aufsatz mit dem Titel: „An­trag auf Absage an Praxis und Prinzip der Ab­gren­zung“. Damit will er den Zusammen­hang zwischen der damaligen militärischen Abschreckung und ideologischer Abgrenzung aufzeigen. Daran anlehnend würden wir formulieren: „Antrag auf Anerkennung der Leere als konstruktives Element und Vorbe­din­gung für menschliche Freiheit.“ Damit würden wir auf den Zusammenhang zwischen dem Wahn alles kontrollieren zu müssen und der Angst vor der Leere als Vorbedingung für men­schliche Freiheit hin­­ weisen wollen. 

Mit dem Titelblatt und diesem Artikel wird damit Genüge getan.

Michael Steinbach (Mai 2012)