GLEIMKIEZ

Reicher Osten, armer Westen

Die Gleimstraße ist eine bemerkenswerte Straße in vielerlei Hinsicht. Sie verbindet zwei Stadtbezirke, sie unterläuft dabei den legendären Gleimtunnel, sie ist Namensgeberin eines Stadtquartiers. Und: Die Gleimstraße ist eine Straße, die sich in zwei Welten teilt.

Hier: Prenzlauer Berg, also Ost, dort: Wedding, also West. Hier ein paar alteingesessene Prenzlauer BergerInnen und viele zugezogene HipsterInnen; dort eine Multi-Kulti-Gesellschaft, die nicht so viel Geld in der Tasche hat. Hier andere Schulen, andere Supermärkte und anderen Autos also dort. Zwei Welten, so haben Journalisten des öffentlichen-rechtlichen Rundfunksenders rbb jüngst herausgefunden, finden sich diesseits und jenseits des Gleimtunnels. Und weil ihre Untersuchung anhand einer Straße so gut in die Ost-West-Debatte passt, die derzeit Berlin und das ganze Land beherrschen, seien daraus Auszüge zitiert, ergänzt um einen Ausblick, wie sich das ändern könnte.

Der sprachliche Unterschied

An unterschiedlichen Parametern machen die beiden rbb-Journalisten ihre soziale Unterscheidung fest. Beispiel Bildung und Schule. Die beiden rrb-Journalisten haben untersucht, welche Kinder auf die Ost-Schule, welche auf die Wedding-Schule gehen. Ihr Ergebnis: „Manche Eltern aus dem Brunnenviertel versuchen ihre Kinder auf die nahen Schulen im Prenzlauer Berg zu schicken, da sie sich dort eine höhere Qualität erhoffen.“ Das trage zwar zu einer stärkeren sozialen Durchmischung der Nachbarschaft bei - allerdings nur in eine Richtung. Denn Kinder aus dem Prenzlauer Berg gehen in der Regel nur dort zur Schule - und nicht im Wedding. Ihr Ergebnis in Zahlen: „Insgesamt 497 SchülerInnen besuchen die Thomas-Mann-Grundschule an der Greifenhagener Straße im Prenzlauer Berg. Über 85 Prozent sprechen Deutsch als Muttersprache. An der Heinrich-Seidel-Grundschule an der Ramlerstraße im Brunnenviertel lernen 549 SchülerInnen gemeinsam. Von nur fünf Prozent ist die Herkunftssprache Deutsch.

Luftlinie liegen die beiden Grundschulen nur 1,4 Kilometer auseinander. Doch die Multikulturalität in den Klassenzimmern unterscheidet sich stark. Während an der Heinrich-Seidel-Grundschule 95 Prozent der SchülerInnen eine nichtdeutsche Herkunftssprache sprechen, sind es an der Thomas-Mann-Grundschule im Prenzlauer Berg nur 12,1 Prozent. 22,4 Prozent der SchülerInnen, die an der Grundschule im Brunnenviertel lernen, haben einen ausländischen Pass. An der Thomas-Mann-Grundschule im Prenzlauer Berg ist der Anteil mit 8,5 Prozent weniger als halb so groß.“

Gleimoase Berlin Prenzlauer Berg
Kann gemeinsames Gärtnern soziale Unterschiede ausgleichen? Die Gleimoase versucht es. Foto: NVB

Anhand der Schulen betrachten die Autoren weitere soziale Unterschiede zwischen Prenzlauer Berg und Wedding: „Auch das Wohlstandsgefälle zeigt sich anhand der Grundschulen: Weil viele der Eltern von Kindern der Heinrich-Seidel-Grundschule sich die Zuzahlungen zu den Büchern und Lernmaterialien ihrer Kinder nicht leisten können, sind sie vom Lehrmittelzuschuss befreit. Eine finanzielle Belastung für die Schulen. Deswegen bekommt die Heinrich-Seidel-Schule einen Förderzuschuss von 80.000 Euro pro Jahr. In der Elternschaft der Thomas-Mann-Grundschule können mehr Eltern den Lehrmittelzuschuss für ihre Kinder an die Schule bezahlen. Sie braucht keine Förderung.“

Der wirtschaftliche Unterschied

Ein dritter Aspekt ist die Wirtschaftskraft. Auch hier machen die Autoren Unterschiede zwischen West und Ost aus: „2.657 Euro beträgt die durchschnittliche Kaufkraft je Haushalt im Postleitzahlbezirk 13355, Berlin-Wedding. Ebenfalls an der Gleimstraße, im benachbarten Prenzlauer Berg, 10437, liegt diese um 348 Euro höher, zeigt der Wohnmarktreport 2019 der Dienstleistungsunternehmen Berlin Hyp und CBRE. Die Haushalte im ehemaligen Westbezirk haben schlicht weniger Geld zur Verfügung.“ Entsprechend würden die Händler ihr Sortiment der Zahlungskraft des jeweiligen Kiezes anpassen. Sprich: mehr günstige Ware, mehr Ramsch im Westen als im Osten.

Letzter Blick der Autoren auf die Mieten und ihre Unterschiede in Gleim- und Brunnenviertel: „Die beiden Viertel, welche die Gleimstraße verbindet, nähern sich in einer Hinsicht an: Die Angebotsmieten steigen. Während diese im Prenzlauer Berg aber von 2016 zu 2018 um 16,3 Prozent zugelegt haben, stiegen sie auf der Gesundbrunnen-Seite im selben Zeitraum viel stärker, um 22 Prozent. Eine Annäherung im negativen Sinne. Die Mieten im Prenzlauer Berg sind bereits auf einem höheren Niveau.“

Was lässt sich tun? Der Nachbarschaftsverein Brunnenviertel auf der Wedding-Seite hat eine kleine, ganz praktische Lösung. Begegnen im gemeinsamen Tun, zum Beispiel beim gemeinsamen Gärtnern in der Gleimoase. Dieser kleine Skulpturenpark direkt am Gleimtunnel wurde nach der Wende vergessen und wucherte bis zur Unkenntlichkeit zu. Seit dem Jahre 2010 wird er von einer Patenschaftsinitiative betreut. Neben der gärtnerischen Pflege und Gestaltung finden Lesungen, Führungen zu Stadtnatur und lokaler Geschichte, Brunches und Kunstaktionen dort statt.

-red-, Sep. 2019