LEBENSMODELLE IN PRENZLAUER BERG

„Schwule leben gern hier“

Zeitung Prenzlauer Berg Magazin
„Für Schwule gibt es in Prenzlauer Berg eine gute Infrastruktur“: Dirk Wagner.

Ein Stadtteil, in dem Schwule sich wohl fühlen – auch das ist Prenzlauer Berg. Überdurchschnittlich viele Schwule leben hier, Foren der Szene feiern die Quartiere als Schwulen-Hochburg. Der Sozialpädagoge Dirk Wagner hat schwules Leben und schwule Partnerschaften erforscht und in einem Buch veröffentlicht. Im Gespräch gibt er über die Spezifik homosexueller Männer-Partnerschaften Auskunft.

Herr Wagner, Sie leben seit über 25 Jahren in Prenzlauer Berg. Wie schwul ist der Stadtteil?
In Prenzlauer Berg sieht man relativ viele Schwule. Neben Schöneberg ist es der Berliner Stadtteil mit dem höchsten Anteil homosexueller Männer. In anderen Bezirken ist die Selbstzensur höher, da trauen sich Männer oft nicht, ihr Schwulsein öffentlich zu leben.
Es gibt in Prenzlauer Berg eine offene Atmosphäre und es gibt eine gute Infrastruktur für Schwule. Man kann einerseits andere Schwule treffen, das kulturelle Leben ist hier stark ausgeprägt, es gibt zahlreiche Cafes und Restaurants. Schwule sind ja in der Regel aktiver in ihrer Freizeit, nutzen kulturelle Angebote stärker als Heterosexuelle. Sie finden in Prenzlauer Berg eine vielfältige Infrastruktur vor.

Braucht es denn eine spezielle Infrastruktur für Schwule?
Es braucht beides. Singuläre Orte nur für Schwule und ein entspanntes Miteinander von Heterosexuellen und Schwulen. Das ist in Prenzlauer Berg schon sehr stark ausgeprägt.

Prenzlauer Berg galt schon zu DDR-Zeiten als die Schwulen-Hochburg des ganzen Landes. Was hat sich verändert?
Zu DDR-Zeiten gab es hier zehn Schwulen-Bars, von denen gibt es bis auf eine aber keine mehr. Dafür gibt es viele Lokale, die von Schwulen betrieben werden und für Schwule, Lesben und Heterosexuelle offen sind oder die beispielweise extra schwule Tage anbieten. Der große Unterschied ist: Früher kam man hierher, um andere Schwule zu treffen. Heute leben sehr viele Schwule dauerhaft und gern hier.

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„Schwule Partnerschaften sind ein historisch junges Beziehungsmodell“.

Gibt es Diskriminierungen schwuler Männer in Prenzlauer Berg?
Die wird es in gewisser Weise geben. Mir sind keine bekannt, oft finden sie subtil statt. Eher scheint mir, dass Schwule und Heterosexuelle noch zu oft nebeneinander her leben. Da fehlt eine gegenseitige Wahrnehmung und das beschriebene entspannte Miteinander.

Mit Ihrem Buch über schwule Partnerschaften beschreiben Sie ein bisher wenig thematisiertes Terrain. Wo und wie haben Sie Ihre Erkenntnisse gewonnen?
Die Situation schwuler Paare ist vergleichsweise wenig erforscht, weil das Beziehungsmodell noch relativ jung ist. Schwule Partnerschaften hat es aufgrund gesellschaftlicher Homophobie lange Zeit kaum gegeben. Ich habe die wenige vorhandene Fachliteratur genutzt, ich habe Interviews mit zwei Paar-Beratern schwuler Männer geführt, davon einem aus Prenzlauer Berg, und diese analysiert. Erkenntnisse habe ich auch aus meiner eigenen Praxis gewonnen. Ich habe lange Coming-Out-Gruppen geleitet.

Was macht die Spezifik schwuler Partnerschaften aus?
Es gibt in schwulen Partnerschaften auch das klassische Zweier-Modell wie bei heterosexuellen Paaren. Häufig sind solche Partnerschaften indes offen für Außenkontakte, entweder für kurzzeitige sexuelle Begegnungen, oder man lebt eine menage au trois, eine Beziehung zu dritt. Viele Schwule, etwa 50 Prozent, haben keine längerfristigen verbindlichen Partnerschaften, die sie öffentlich leben. Der Anteil der Singles ist hoch – das Single-Dasein ist manchmal bewusst gewählt, manchmal ist es unfreiwillig.

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„Schwule brauchen singuläre Orte und ein entspanntes Miteinander mit Heterosexuellen.“ Fotos (3): al

Welche Gründe hat das unfreiwillige Single-Dasein?
Viele Schwule haben Diskriminierungserfahrungen, die wirken in Partnerschaften hinein, zeigen sich zum Beispiel in Bindungsängsten oder in Nähe-Distanz-Konflikten. Es fehlen auch Rollenmodelle für Partnerschaften. Historisch gesehen gibt es die Möglichkeit, offen in einer Partnerschaft zu leben, noch nicht sehr lang, erst seit den 60er Jahren.

Welche Erkenntnisse über schwule Partnerschaften vor dieser Zeit haben Sie gewonnen?
Oft wurde Homosexualität heimlich in typischen Männer-Gemeinschaften gelebt, etwa im Militär oder in der Kirche. Schwule wählten manchmal bewusst solche Lebens- und Berufswege. Kollektiv blieb schwules Sein oft verborgen. Die meisten Schwulen führten ein Doppelleben, heirateten Frauen, hatten Kinder. Manche gestatteten sich dann zumindest zeitweise homosexuelle Begegnungen, andere nicht. Gleichgeschlechtliche Sexualität gab es wohl schon immer, schwule Partnerschaften im emanzipatorischen Sinn sind ein Ergebnis der Moderne.

Das klassische heterosexuelle Männerbild hat sich verändert und verändert sich noch. Inwieweit betrifft dies auch das Bild schwuler Männer?
Man kann sagen, dass Schwule heterosexueller geworden sind, Heterosexuelle schwuler. Eigenschaften, die man früher lediglich Schwulen zugeschrieben hat, werden inzwischen auch heterosexuellen Männern gestattet und andersherum. Auch der Wunsch, Vater zu sein, hat bei Schwulen zugenommen. Das verändert auch das Familienbild. Es gibt Foren, wo Schwule und Lesben sich treffen, um gemeinsam Kinder zu zeugen und gemeinsam aufzuziehen. Da werden sich in nächster Zeit ganz unterschiedliche Familienmodelle entwickeln.

Das Gespräch führte Katharina Fial (April 2015)

Zum Weiterlesen: Dirk Wagner: Schwule Partnerschaften. Eine vergleichsweise junge Beziehungsform zwischen Akzeptanz, Ambivalenz und Ablehnung. Diplomica Verlag 2014.