WINSKIEZ

Poesie im Straßeneinerlei

Die Chodowieckistraße ist eine unscheinbare Querstraße im Winskiez. Als nördlichste Straße des Quartiers birgt sie Kleinode aus Kunst, Musik und Literatur – und eine schlichte Stille, in der sich gut wohnen lässt. Bald auch in der letzten Baulücke.

 

In diesem Haus wohnen Menschen verschiedener Nationen. So steht es auf einer kleinen Tafel an der Fassade. Das Haus ist auch von außen bunt, leuchtet in orange und gelb in den pastellen Frühlingsnachmittag. Flaggen aus Brasilien, der Schweiz und Großbritannien zieren die Fassade, von Hand gemalt von den Kindern, die mit ihren Eltern in diesem Haus wohnen. 

Das Haus steht in der Chodowieckistraße und ist ein kleiner Farbtupfer in den eher eintönig in beige und grauweiß getünchten Häuserzeilen. Der schöne Schmuck der Gründerzeit, den die benachbarten Straßen rund um die Winsstraße und die Winsstraße selbst tragen, fehlt hier weitgehend. Die Fassaden sind glatt, nicht viele Häuser haben zur Straße hin einen Balkon. Die Straße ist schmal und dunkel, die kleinen Straßenbäumchen warten auf ihre ersten Knospen.

Zeitung Prenzlauer Berg Magazin
Ein Haus der Vereinten Nationen in der Chodowieckistraße. Woher die Bewohner stammen, haben sie an die Fassade geflaggt.

Ein Mix der Künste

Dafür ist es ruhig in der Chodowieckistraße. Und noch etwas macht die nördlichste Straße des Winsviertels zu etwas besonderem: Hier ist das Leben gemischt – die Bewohner sind international. Gut, das ist in Prenzlauer Berg nichts besonderes mehr. Die Bewohner sind jung und alt – das ist schon etwas besonderer. Gemischt ist auch das Straßenleben: Kleine Gewerbe, Kunst und Kunsthandwerk und Dienstleistung nisten in den Erdgeschossen. Hinter manchen Schaufenstern scheinen die Menschen gleichzeitig zu leben und zu arbeiten. Die Änderungsschneiderei hat eine Sofaecke und eine offene Küche. In einem Trödelladen stehen Fahrräder, Mülleimer und Biedermeier-Sofas neben einem Schreibtisch. 

 

Der alte Kupferstecher

Kunsthandwerk und Kunst gibt es auf der Straße in ungewöhnlicher Fülle. Als wollte die Straße ihrem Namensgeber, dem Maler und Kupferstecher Daniel Nikolaus Chodowiecki, auch 200 Jahre nach seinem Tod Respekt zollen. Ganz vorn, schon fast an der Greifswalder Straße, annonciert der Kerzenladen, dass er einen neuen Besitzer sucht. Seit zwölf Jahren gibt es das kleine Lädchen mit dem schönen bezeichnenden Titel „Feuer und Flamme“. Seltene Kerzen gibt es hier zu kaufen und auch selbst zu machen. Wundersame Exemplare aus Wachs zieren das Schaufenster und künden davon, dass es Spaß macht, Kerzen selbst zu ziehen. Und dass die schönsten zum Abbrennen eben zu schade sind. Es ist dem Laden zu wünschen, dass er einen neuen Betreiber erhält und damit am Leben bleibt.

Ein paar Hundert Meter die Straße rauf, jenseits der Winsstraße, ist die Keramik-Werkstatt geöffnet. Schon von draußen sind die Töpferscheiben und der Ton zu sehen. Im Schaufenster und den Regalen stehen filigrane Gefäße. Die beiden Keramikerinnen arbeiten seit neun Jahren hier. Sind sie nicht in ihrer Werkstatt anzutreffen, dann bieten sie auf den zahlreichen Töpfermärkten im Umland ihre Arbeiten an.

Nahezu vis a vis auf der anderen Straßenseite lädt die Galerie Vinogradov in ihre aktuelle Ausstellung. Galeristin Marina Vinogradova hat viele Jahre als Kunsthistorikerin in Galerien in St. Petersburg gearbeitet. Seit zehn Jahren betreibt sie nun in Berlin ihre eigene Galerie und zeigt vor allem russische Gegenwartskünstler mit Malerei, Grafik und Skulpturen. 

 

Lyrik und Musik

 „Poetisiert Euch“ verkündet das Schaufenster des Verlagshauses Berlin. Die drei Inhaber Andrea Schmidt, Jo Frank und Dominik Ziller geben Lyrik und Illustrationen heraus. Das Programm umfasst Gegenwartsliteratur und Wiederentdeckungen aus dem deutschen und internationalen Sprachraum. 

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„Poetisiert Euch“ – das Verlagshaus Berlin gibt Lyrik und Illustrationen heraus. Fotos (2): al

Ein Nischen-Verlag mit schönen, mutigen und seltenen Publikationen. Neben die Texte tritt die Illustration als gleichberechtigte Ausdrucksform. Statement der Verleger: „Damit erweitern wir die Lyriklandschaft um Stimmen, die sonst nirgendwo hörbar sind.“

Auch eine Kreativagentur agiert in der Chodowieckistraße. Und ein Musikverlag. Die Edition Juliane Klein verlegt zeitgenössische Musik aller Stile – vom Solo über Oper bis zu elektronischer Musik. Die Gründerin ist selbst Musikerin, der Verlag war einst ihr Eigenverlag und wuchs sich in den 18 Jahren seit seiner Gründung zu einem etablierten Verlag in der Branche. Gerade hat in Augsburg die Oper „Kaspar Hauser“ seines Komponisten Hans Thomalla Premiere.

Und sonst: Siedeln Dienstleister für Gesundheit und Wellness in der Chodowieckistraße. Die medizinische Fußpflege, die ihr Firmenschild per Hand auf den heruntergelassenen Rollladen gemalt hat. Ein Friseur, dem der Charme der 90-er Jahre anhaftet. Psychologinnen und Physiotherapeuten. 

 

Mit Barkeeper

Auch eine Kneipe fehlt in der Chodowieckistraße nicht, ebenso wie zwei kleine Kitas. Die Kneipe ist eine schlichte, fast typische Berliner Kneipe, mit Holztischen und ausschließlich Getränken. Das Angebotsschild offeriert neben Schnäpsen und Cocktails auch „Mitgefühl und Zuspruch vom Barkeeper“. Ein weiteres Schild zeigt einen Vogelkopf und den freundlichen Hinweis, „draußen ab 21.30 Uhr den Schnabel zu halten“. Es scheint geräuschempfindliche Nachbarn oder laute Gäste oder beides in und an dieser Kneipe zu geben. 

Und dann ist da noch eine große Baustelle in der Chodowieckistraße. Die Gewobag baut in der letzten Baulücke einen Siebengeschosser mit 29 Wohnungen in Vorderhaus und Seitenflügel. Auch dieses Haus wird weiß, das Dachgeschoss erhält eine Glasfront. Für sechs der neuen Wohnungen preist die Wohnungsgesellschaft eine besonders niedrige Miete aus. Im Spätsommer des Jahres soll der Neubau bezugsfertig sein. 

-al-, April 2017