PRENZLAUER BERG

Die Vergessenen

Sieben Monate. So lange, wenn nicht noch länger, zwingt der zweite Lockdown Unternehmen auch in Prenzlauer Berg in den Notbetrieb oder in die Schließung. Sieben Monate ohne Arbeit, ohne verlässliche Einkünfte. Sieben Monate Ausharren, Warten auf Entscheidungen im 14-Tage-Rhythmus.

 

Ich kann endlich wieder arbeiten, sagt Giovanni, der seinen vollständigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Er hat sieben Monate auf diesen Moment gewartet. Sein Chef hatte den Kellner in Kurzarbeit geschickt. Den To-Go-Betrieb des Restaurants stemmten die Köche allein. Nun, an diesen Pfingstfeiertagen des Jahres 2021, bringt Giovanni Speisekarten und Besteckteller auf die Tische draußen, checkt die Schnelltest-Ergebnisse auf den Handys der Gäste. Es könnten mehr Gäste sein. Doch alle sind froh, dass es überhaupt wieder losgeht. Und Giovanni ist froh, dass seine gelernten Handgriffe auch nach der Zwangspause noch funktionieren.

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Ein eigentlich gewohntes, in diesen Zeiten ungewohntes Bild: Seit dem Pfingstwochenende stehen draußen wieder Stühle und Tische vor den Cafes und Restaurants.

Endlich wieder arbeiten, etwas tun, Menschen begegnen. Die ersten zaghaften Öffnungsschritte im Mai offenbaren auch in Prenzlauer Berg, wieviel Lebensqualität verloren gegangen ist unter dem Druck der Pandemie. Wie sie die Menschen gespalten hat: In die, die um ihre Existenz bangen oder sie aufgeben mussten. Und in die, die sich mit fehlendem öffentlichen Leben arrangieren mussten. Und wenn es einen letzten Beweis braucht, dass Menschen nicht nur für ihren Lebensunterhalt arbeiten, dass sie arbeiten, weil sie etwas Sinnstiftendes tun wollen, dann haben diese sieben Monate ihn erbracht. Zeit für ein Grundeinkommen.

 

MEHR „ZU VERMIETEN“-SCHILDER

Prenzlauer Berg ist sichtbar ein anderer Stadtteil geworden. Und noch ist überhaupt nicht absehbar, wohin er sich noch verändern wird. Es ist ja nicht vorbei. Nicht diese Pandemie. Nicht die Kontaktbeschränkungen und deren Auswirkungen, deren Ausmaß selbst die kühnsten Wirtschaftsprognosen nicht abschätzen können. Beim ersten Lockdown, im März 2020, waren so viele Unternehmen noch zuversichtlich: Ein paar Monate überstehen wir, wir haben gut gewirtschaftet. Die Welle der Solidarität war hoch: Gutscheine, Spenden für die Lieblingskneipe, das Kino, den Fitness-Klub. Dann kam der Sommer und alles schien normal. Dann kam der Herbst und mit ihm die Unberechenbarkeit. Kam das Warten derer, die herunterfahren mussten, auf die nächsten Entscheidungen von Bundesregierung und Senat, wann es wie weitergeht. Und jetzt warten manche immer noch. Kommt der Stufenplan ab Juni? Wann und in welcher Form können Fitness-Studios, Restaurants und Theater drinnen, können Hotels wieder öffnen? 

Und manche fühlten sich dann vergessen. Die Clubs vor allem, die Bars, die Sport- und Yoga-Studios, denen jegliche Perspektive fehlt. Je länger dieser zweite Lockdown dauerte, umso dünnhäutiger wurden wir, umso schwächer die Solidarität. Die groß angekündigten staatlichen Überbrückungshilfen ließen auch die Spendenbereitschaft sinken. Viele glaubten, sie sei nicht mehr nötig. Dass oft nur ein Bruchteil der Fixkosten bezuschusst wurde, nicht der Lebensunterhalt, das drang weniger ins Bewusstsein. Und dann war die Kneipe um die Ecke plötzlich für immer zu. Und die leeren Schaufenster und Gewerberäume mit dem Schild „zu vermieten“ wurden und werden mehr.

 

UNGLAUBLICHE FLEXIBILITÄT

Endlich wieder richtig Sport machen. Den Kundinnen direkt begegnen, nicht nur über den PC-Bildschirm. Auch Griseldis Schnerch hat mit ihrem Sport-Club in der Rodenbergstraße bis jetzt sieben Monate aufs Öffnen gewartet. Zum Redaktionsschluss steht noch nicht fest, ob es im Juni schon so weit ist. Auch, wenn Schnerch, ihre Trainerinnen und Kundinnen fest davon ausgehen, notfalls Outdoor-Training machen wollen. Rund ein Drittel seiner Fitness-Kundinnen hat das Frauensport-Studio in diesen sieben Monaten verloren. „Unsere Stammkundinnen haben uns allerdings die Treue gehalten.“, so Schnerch. Mit Online-Kursen zweimal täglich, mit vielen Telefonaten und Emails etablierte Schnerch kontaktloses Training – und hielt persönlichen Kontakt. Ein Service, den ihre Sportfrauen zu schätzen wussten. „Ihr tut ja weiter richtig was für uns“. Und Griseldis Schnerch trieben zwei Aufgaben um: Die Sorge um ihren Club; das Mühen, ihre Kundinnen auch digital sportlich bei der Stange zu halten.

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Mehr Leerstand: Fast unbemerkt haben kleine Unternehmen und Geschäfte in den vergangenen Monaten schließen müssen. Fotos (2): al

Flexibilität brauchten viele Unternehmen und brauchen sie noch. Ob beim Verlegen des Kerngeschäfts ins Digitale; beim Fremdvermieten der Räume, beim Umsatteln auf temporäre Jobs. Bike-Taxi-Fahrer:innen oder Boutique-Besitzer:innen sind jetzt Schnelltester:innen, Künstler:innen helfen in den Impfzentren aus.

 

WAS FÜR PERSPEKTIVEN?

„Ich habe 75.000 Euro Verluste gemacht. Und ich weiß nicht, wie es weitergeht.“, sagt Gastronom Maik. Selbst, wenn ein guter Sommer kommt, wenn großzügig Tische und Stühle ausgebreitet werden können und der Bezirk auf die Gebühren fürs Draußen verzichtet: Was wird mit dem Winter? Woher sollen die Reserven kommen? Der Tourismusverein Berlin-Pankow hat dem Senat deswegen ein Öffnungsmodell für Tourismus und Kultur in Prenzlauer Berg vorgelegt. Wissenschaftlich begleitet, soll es auch Innenöffnungen zulassen – auch als mittelfristige Perspektive. Damit das Auf und Ab, das Warten auf sinkende Zahlen und politische Entscheidungen nicht wieder kommt. „Wann ein Modellversuch in Prenzlauer Berg gestartet werden kann, steht aus“, so der Verband. 

„Diese permanente Ungewissheit, wann es weitergeht, die macht auch mir als Ober-Optimistin schwer zu schaffen,“ sagt Griseldis Schnerch. „Noch einmal kann ich nicht so lange warten, dass ich arbeiten kann“, sagt Giovanni.

Katharina Fial, Juni 2021