ZEITGENOSSEN

Einer, der Geschichte sichtbar macht

Im Haus in der Käthe-Niederkirchner-Straße 35 lebten einst 83 Juden, von denen die meisten deportiert wurden und in Konzentrationslagern verstarben. Jetzt lebt dort Simon Lütgemeyer, der ihre Schicksale recherchiert und öffentlich gemacht hat. Eine Begegnung.

Simon Lütgemeyer steht noch ganz unter dem Eindruck der Stolperstein-Verlegung, die er am Vormittag besuchte. In der Chodowiecki-Straße wurden zwei dieser Messingtafeln im Gedenken an Sally und Lene Casper verlegt, an ihrem letzten frei gewählten Wohnort. Ihr letzter Berliner Wohnort, unfreiwillig, war indes die Käthe-Niederkirchner-Straße 35, die damals noch Lippehner Straße hieß. Von hier aus, einem sogenannten Judenhaus, wurden die Caspers 1942 nach Riga deportiert und dort ermordet. 

Ein Judenhaus. Eine dieser Einrichtungen der Nazi-Zeit, in der überwiegend jüdische Menschen lebten. Zwangsweise eingewiesen, um ihren Wohnraum für die sogenannte arische Bevölkerung freizumachen. Oder auch aus der Not der Diskriminierung und Verfolgung heraus dorthin gezogen, um sich gegenseitig Schutz und Beistand zu bieten. Noch ist die Geschichte der Judenhäuser ein Gebiet, das es genauer zu erforschen gilt.

40 NAMEN, 83 SCHICKSALE

Simon Lütgemeyer hat die Geschichte seines Judenhauses in der Käthe-Niederkirchner-Straße 35 in jahrelanger nächtlicher und Wochenend-Arbeit erforscht – neben seinem Beruf als Architekt. Seit 2019 verweist ein goldenes stilles Klingelschild auf all die jüdischen Menschen, die in der Nazi-Zeit in diesem Haus lebten. 40 Familiennamen stehen auf dem Schild links am Hauseingang. Wie ein Spiegelbild zum Klingelschild auf der rechten Seite, mit 40 Familiennamen derjenigen, die jetzt in diesem Gebäude im Bötzow-Kiez wohnen.


#prenzlauerberg
Hat die jüdische Geschichte seines Hauses in der Käthe-Niederkirchner-Straße 35 erforscht: Simon Lütgemeyer.

Lütgemeyer hat die Biografien und Schicksale der Menschen recherchiert und veröffentlicht: Unter anderem auf der eigenen Homepage www.kaethe35.de und in einer Serie in den „Prenzlberger Ansichten.“ Im Hausflur der Käthe 35 zeigt ein papiernes Vlies Fotografien und Daten der einstigen Bewohnerinnen und Bewohner. Sie hängen dort seit einer Ausstellung, die es zur Einweihung des stillen Klingelschildes gab. 

40 Familien mit insgesamt 83 Angehörigen. 65 wurden deportiert und ermordet. Acht konnten ins Ausland flüchten, vier starben wohl eines natürlichen Todes, ein Schicksal blieb ungeklärt. Fünf Bewohner des Hauses begingen vor ihrer Deportation Selbstmord.

Auf der Stolperstein-Verlegung am Vormittag unserer Begegnung traf Lütgemeyer auch eine Nachfahrin der Caspers. Zwei ihrer Kinder haben den Holocaust überlebt, nun begegnete Lütgemeyer einer Enkelin. Auch andere Bekannte oder Verwandte waren zu dieser bewegenden Feier gekommen. Für Lütgemeyer ein Beleg dafür, wie völkerverbindend das Gedenken an die Opfer der Judenverfolgung ist.

NÄCHTELANGE RECHERCHE

Warum macht ein Mensch das? Warum investiert er Zeit und Geld in die Recherche nach den einstigen Bewohnerinnen und Bewohnern, wühlt sich durch alte Telefonbücher, Deportationslisten, Zeitungsanzeigen, Fotos? Auf diese Frage weiß er keine passende Antwort, sagt Lütgemeyer. Und dann, nach einigem Überlegen, dann gleich zwei Antworten. Als er Ende der 90er in das Haus zog, habe er wissen wollen, wer hier früher gelebt hat, vor ihm. So stieß er auf die Fotografie einer Frau, die in den 80er Jahren auf genau seinem Balkon stand. Frau Seelig, aufgenommen vom Ostkreuz-Fotografen Harf Zimmermann. Die berühmte Agentur hat sich übrigens auch in der Käthe 35 gegründet. Und an Lütgemeyers Kellerverschlag steht noch heute der Name Seelig geschrieben. An eine Frau Seelig mussten auch jüdische Mitbewohner:innen ihren Schlüssel abgeben, hat Lütgemeyer in einer historischen Akte gefunden.


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40 Klingelschilder zum Gedenken an 83 jüdische Bewohnerinnen und Bewohner: Die Käthe 35. Fotos (2): al

Als dann vor dem Nachbarhaus Stolpersteine verlegt wurden, fragte sich Lütgemeyer, ob wohl auch in seinem Haus Juden gelebt hätten. So begann die Recherche. Wahrscheinlich hat ihn auch sein Großvater dazu inspiriert, lautet die zweite Antwort darauf, warum er sich so engagiere. Der Großvater hatte in Lütgemeyers westfälischem Heimatort einst die Geschichte jüdischer Mitbewohnerinnen und Mitbewohner erkundet und in der Lokalzeitung veröffentlicht. Für den Enkel damals die erste direkte Berührung mit jüdischen Biografien: „Bis dahin war die Shoa etwas Abstraktes für mich. Ich kannte keine persönlichen Geschichten.“

EIN WELTWEITES NETZ

Lütgemeyers Arbeit hat sich inzwischen wie ein Netzwerk ausgebreitet. Zuallerst im Haus selbst – die Nachbarinnen und Nachbarn sind sich über die Geschichte ihres Hauses näher gekommen, duzen sich. Dann auch weltweit. Seine Recherchen nach Nachkommen führten nach Amerika, nach Australien. Eine der wenigen Überlebenden, Tana Hopp, sprach er einfach auf den Anrufbeantworter. Sie war gerade zehn Monate alt, als ihren Eltern die Flucht gelang. Lütgemeyer konnte ihr Fakten berichten, die die in den USA lebende Frau nicht kannte. 

Mit Martin Schott fand er einen weiteren Überlebenden in Australien. Auch er war noch ein Baby, als seine Familie Deutschland verließ – in seinem Kinderwagen war das Kapital für ein neues Leben außerhalb Nazi-Deutschlands versteckt. Und mit Peter und Werner Gossels fand er schließlich die Erben des Hauses, das der Kaufmann Isidor Lewy 1905 erwarb und das seine Witwe 1939 zwangsverkaufen musste. Nach der Wende erhielten die Brüder es zurück, verkauften es und gründeten mit dem Erlös eine Stiftung, die in ihrer amerikanischen Heimat u.a. einen Bibliotheksbau finanzierte. 

Sie alle und viele weitere Menschen waren zur Einweihung des stillen Klingelschilds wieder in Deutschland, in der Käthe 35. Ein Fotoband hält dieses Ereignis fest. Mit einigen der Nachfahren unterhält Lütgemeyer freundschaftliche Beziehungen, besuchte sie in Amerika, will auch einen Film einer Nachfahrin deutsch untertiteln. Es scheint, als hätte er die Geschichte des Hauses in der Welt der Gegenwart weiter gewebt. Und für die Welt einen Ort des Gedenkens geschaffen. 

Lütgemeyers Frau Britta Wilmsmeier ist Geschichtenerzählerin und hat gemeinsam mit dem Jazzmusiker Roman Ott, der ebenfalls in der Käthe 35 wohnt, ein Erzählstück über die Biographie des Hauses gemacht. Es war auch in Schulen zu sehen.

Und wie geht es mit Simon Lütgemeyers Arbeit weiter? „Ich habe schon lange ein Buch geplant. Bisher fehlte die Zeit.“

Katharina Fial, Juni 2022

Mehr auf: www.kaethe35.de