PRENZLAUER BERG

Die Netz-Nachbarschaften

Einfach nebenan klingeln oder auf nebenan.de posten? Digitale Nachbarschaftsplattformen gehören zum Leben im Quartier. Welche Rolle spielen sie genau – und wie verändert sich diese? Beobachtungen, ergänzt um Erkenntnisse eines Forschungsteams.

Wer Prenzlauer Berg ausschließlich über diesen Kanal entdeckt, muss den Eindruck bekommen, hier würden vor allem Fahrräder geklaut und Schlüssel verloren, postete ein Nutzer unlängst in einer social-media-Gruppe. Ein schöner lakonischer Kommentar zu dem, was uns digital so umtreibt, uns Nachbar:innen im weltweiten Netz. Wir informieren einander über Alltägliches und Außergewöhnliches in unserem unmittelbaren Umfeld, wir bieten oder suchen Hilfe. Darüberhinaus tauschen wir Werkzeug oder Zelte via Internet; geben Kinderkleidung oder ungenutzte Einmachgläser weiter. 

Studien bescheinigen uns Menschen in Prenzlauer Berg eine hohe digitale Affinität. In erster Linie sind wir beruflich online unterwegs, in Startups, Medien- und Filmfirmen oder IT-Büros. Doch längst auch privat: Wir lesen online, streamen Filme und Musik. Wir kaufen online ein - von Möbeln bis zum Abendessen oder Katzenfutter. Das Leben gestaltet sich in weiten Teilen als digitales Leben. Die Kontaktbeschränkungen der Pandemie-Zeiten gaben diesem Trend auch in Prenzlauer Berg noch einmal einen Schub. Per Klick aus der Bötzowstraße erschließt sich die ganze Welt.  

#prenzlauerberg
Nachbarschaftskommunikation analog: Inserat am Laternenpfahl.

DAS SOZIALE NETZ

Welchen Beitrag leistet nun das Digitale für die kleine Welt, das nachbarschaftliche Miteinander? Dazu forschte ein Team um Soziologin Nina Böcker für den Bundesverband Wohnen und Stadtentwicklung, einen gemeinnützigen Verein für Kommunen und Wohnungsunternehmen. Unter der großen These „Digitale Transformation im Quartier“ erforschten die Fachleute die Online-Nachbarschaft in Berliner Kiezen seit der Zeit des ersten Lockdowns im Jahr 2020. Auch in Prenzlauer Berg befragten sie soziale Netzwerker:innen persönlich und werteten Statistiken aus.

Zunächst die Statistik: Seit März 2020 schnellten die Anmeldezahlen auf social-media-Portalen wie nebenan.de in die Höhe und blieben hoch. In Quartieren wie dem Winskiez oder dem Kollwitzkiez ist inzwischen die Hälfte der Bevölkerung auf nebenan.de organisiert. Beeindruckende Zahlen, doch „die große Transformation zum digitalen Quartier hat es nicht gegeben“, sagt Nina Böcker. Sprich: Die Nachbarschaft lebt weiter vom Begegnen und Erkennen auf der Straße, also ganz analog. Der Austausch in sozialen Netzwerken kann indes das Gefühl von Nachbarschaft stärken, etwa durch miteinander organisierte Aktionen oder Hinweise auf Veranstaltungen ein paar Blocks weiter. Oder ganz einfach durch das Angebot praktischer Hilfe wie Einkaufen für Kranke oder Menschen in Quarantäne. 

Dabei zeigt sich auch ein Paradox. Soziales Netzwerken verstärkt soziale Unterschiede. Nachbarschaftshilfen oder -hinweise erreichen oft nur diejenigen, die ohnehin miteinander bekannt sind. Andere bleiben außen vor, weil sie nicht digital vernetzt sind.

 

DAS POLITISCHE NETZ

„Wohl bei amazon bestellt? Aber gegen die Fleischesser meckern“. Solche Kommentare finden sich unter Beiträgen, in denen ursprünglich Sachen zum Teilen angeboten werden. Das Bedürfnis, seine Meinung kundzutun, schleicht sich auch in Schwarze-Brett-Rubriken wie Suche/Biete. Wer etwa in Prenzlauer Berg via digitaler Nachbarschaftsgruppe eine Wohnung sucht, kann damit rechnen, eine Diskussion über Berliner Mietenpolitik auszulösen. Das ist eine neue Funktion digitaler Nachbarschaft. Wir diskutieren im Netz, teilen politische Ansichten zu ganz unterschiedlichen Themen. Auch in eher unpolitischen Portalen wie dem Nachbarschaftsnetz nebenan.de. 

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Nachbarschaftskommunikation digital: Vernetzung auf Plattformen wie nebenan.de. Fotos (2): al

Ja, soziale Nachbarschaftsmedien werden zunehmend für solche politische Diskussionen genutzt, sagt auch Soziologin Nina Böcker. Das betrifft auch die Politik vor der eigenen Haustür: Müllberge, Lärm, fehlendes Grün oder Hundekacke – darin unterscheidet sich Prenzlauer Berg von anderen Kiezen. 

Und: wir posten auch zum Zweck der sozialen Kontrolle. Das diene einerseits der Sicherheit im Quartier, etwa wenn wir einander vor Einbrüchen oder eben Fahrraddiebstählen warnen, sagt Soziologin Böcker. Schnell könne daraus auch der digitale Pranger werden: Wenn etwa nicht genehmes Verhalten anderer öffentlich gemacht wird.

 

DAS SOLIDARISCHE NETZ

„Ich suche einen guten Notar. Kann mir jemand weiterhelfen?“ oder: „Wo finde ich einen Fliesenleger?“ Dieser soziale Austausch, das Anfragen und Anbieten, ist und bleibt indes eine der Hauptfunktionen digitaler Nachbarschaft. Und schafft letztlich auch soziales Vertrauen. Wer dann seinen Blick vom Smartphone oder Tablet hebt, kann am nächsten Laternenpfahl das nächste spannende Nachbarschaftsangebot entdecken: Handgeschriebene Zettel, die auf Stimmtraining oder Hundesitting hinweisen. Digital ergänzt analog.

-al-, Febr. 2022