WINSKIEZ

Vorzeige-Kiez, Geister-Kiez

Es ist genau zehn Jahre her, dass der Kiez rund um die Winsstraße offiziell als saniert und stadterneuert galt. Im April 2011 beendete der Berliner Senat das Förderprogramm „Sanierungsgebiet Winsstraße“ mit seiner 12. Aufhebungsverordnung. Wir blicken zurück und aufs Jetzt.  

Der Stadtplatz an der Marie im April 2021, ungewöhnlich still. Auf der Wiese will das Gras erst wachsen. Braune Stellen auf dem Rasen zeugen von den vielen Füßen, die über ihn gelaufen sind – und von der Trockenheit der vergangenen Sommer. Das kleine Amphitheater nutzen Kinder als Sprungburg. Auf der Steinmauerbank essen Jugendliche ihre nebenan gekauften Burger, ein Kind balanciert an der Hand seiner Mutter und beobachtet die Meisen in der Zweigen der aufblühenden Sträucher. Vor dem Abenteuerspielplatz warten Jungs auf Einlass. Eine Mutter ruft ihnen zu, sie sollten ihre Jacken anziehen. 

 

GEMEINSAM FÜR FREIRAUM

Der Stadtplatz an der Marie gilt als der zentrale Platz des Winskiezes. Er ist auch die einzige größere Freifläche und vieles in einem: Spiel- und Picknickplatz, Sportanlage, Ort für urbanes Gärtnern – und in längst vergangen geglaubten Zeiten: Ort für Feste und Konzerte. Ein wenig in die Jahre gekommen, trägt die Marie die Spuren ihrer vielfältigen Nutzung sichtbar auf und um sich. 1999 wurde der Platz offiziell eingeweiht, als Vorzeigeprojekt gemeinsamer Stadtsanierung von AnwohnerInnen und Verwaltung. 6.000 Quadratmeter Freifläche gestalteten sie auf dem einstigen Gelände des ehemaligen Rettungsamtes zum zentralen Ort des Winskiezes um. Preise gab es dafür, und auch in den Folgejahren viel Engagement der AnwohnerInnen, etwa beim Spendensammeln für ein neues Kletterschiff.

Der Platz, der 1999 so stolz und so frisch erstrahlte, zeugt nun, in seinem angestaubten Grün, auch auf andere Weise vom Zeitgeschehen im Winskiez. Abends treffen sich hier inzwischen Jugendliche, die bei seiner Einweihung noch Kleinkinder waren – oder noch gar nicht hier lebten.

#marienburger #marie #winskiez #prenzlauerberg
Ungewöhnlich leer, im Frühlingserwachen: Der Stadtplatz an der Marie. Foto: al

Die Geschichte der Sanierungsgebiete, eines der größten städtebaulichen Programme in Berlin, ist eine zwiespältige Geschichte: Mit vielen Millionen Euro wurden neben dem Winskiez noch zehn weitere Quartiere in Prenzlauer Berg aufgehübscht, die Häuser vor dem Verfall gerettet, die Infrastruktur modernisiert. Einher mit der Sanierung ging die Gentrifizierung, die Verdrängung angestammter BewohnerInnen und Bewohner durch steigende Mieten. Ein Vorgang, der auch zehn Jahre nach Ende der offiziellen Sanierungszeit nicht abgeschlossen ist. Guerilla-Plakate rund um die Marie machen auf die Situation aufmerksam: „Wenn die Mieten zu hoch sind, müsst Ihr halt im Hotel wohnen“. Und in den Cafes und Läden rundum liegen Unterschriften-Listen für das Berlinweite Bürgerbegehren „Deutsche Wohnen enteignen.“ 

Die Marie sollte ein Ort der Nachbarschaft sein, der Begegnungen. Corona hin oder her – das ist sie auch unter beschränkten Bedingungen. Im vergangenen März, im ersten Lockdown, hatte der Obdachlose Steven Geburtstag. Er lebte auf den Bänken unter dem Platanendach, zur Marienburger Straße hin. Zu seinem Geburtstag schenkten ihm AnwohnerInnen Schlafsack, Isomatte und warme Sachen zum Anziehen. Ein Jahr später betrauern sie in den sozialen Netzwerken seinen Tod.

 

AUS GRAU MACH NEU

Blicken wir kurz und kommentarlos auf das stolze Fazit des Senats zum offiziellen Ende des Sanierungsgebietes von 2011 mit seinem „Ziel, das Gebiet entsprechend seiner Funktion als citynaher Wohnstandort mit eingelagerten Arbeitsstätten zu erhalten und wesentlich zu verbessern.“ Mehr als 60 Prozent der Wohnungen waren damals saniert; 640 der insgesamt 5.2000 Wohnungen neu gebaut, davon ein Drittel in Häusern, die in Baulücken entstanden. Die beiden Schulen an der Marie und in der Heinrich-Roller-Straße galten als modernisiert. Neben dem Spielplatz auf der Marie entstand auch einer in der Raabestraße und ein Skaterplatz in der Straße Prenzlauer Berg 5. Tempo-30-Zone im gesamten Gebiet. Neue Dienstleistungs- und Gewerbestandorte in den sanierten Frankonia-Höfen, in der Marienburg und der Immanuelkirchstraße.

Seitdem sind Wohn- und Gewerberaum im Winskiez weiter gewachsen: Durch den Ausbau der Dachgeschosse und weiteres Bebauen der Lücken. Als jüngstes Beispiel wächst, wenngleich stockend, direkt an der Kreuzung Marienburger Straße/Winsstraße seit Jahren ein neuer Supermarkt mit Wohnungen obendrüber und Tiefgarage untendrunter und versiegelt ein weiteres Stück Brachland.

 

HEUTE GEISTERKIEZ

Neben dem Wachstum beginnt das Sterben. Das ist anders als der übliche Wandel der kleinen Läden – heute Schmuckgeschäft, morgen Eisverkauf. Erste Restaurants machen auch rund um die Winsstraße dicht. Coronabedingt. Der Wirt des „Übereck“ an der Christburger Straße macht gemeinsam mit der Schauspielerin Nicole Janze auf dieses Sterben aufmerksam: „GeisterKiez“ heißt ihre Performance, die Ende März startete. In der toten, seit Monaten geschlossenen Kneipe irrlichterten des Abends zwei Gäste im stummen Spiel. Draußen, vor dem Fenster, stand das Publikum und guckte auf eine nahezu alltägliche Szene, die in diesen Zeiten so kostbar scheint.

-red-, April 2021