Kastanienallee im Frühjahr 1931

Zeitschrift Prenzlauer Berg Magazin Kastanienallee
Auf den Hinterhöfen der Kastanienallee kann man noch Geschichte "riechen"

April 1931: Emil Müller ist heute um 4 Uhr aufgestanden, hat sich ein paar Scheiben eines echten Holzofenbrotes mit dem großen Brotmesser zurecht gesäbelt, die hauchdünn mit Schmalz bestrichen und in schon mehrfach von ihm benutztes knitteriges Pergamentpapier eingepackt. Während er in der morgendlichen Kälte drei Etagen im Hausflur hinunter, quer über den Hinterhof, bibbernder Weise zur Latrine huscht, erwärmt sich auf der, schnell mit Holz angeheizten Kochmaschine in der Küche, sein Muckefuck aus gerösteten Zichorien („Neudeutsch“: Chicoree-)Wurzeln und / oder Getreide.  Eine halbe Stunde später fährt er mit seinem Fahrrad von seiner Wohnung in der Kastanienallee 86 über Kopfsteinpflasterstraßen, zum Teil so richtig fiese, große „Katzenköppe“, seine Zähne klappern, zum Straßenbahndepot Niederschönhausen-Nordend. Eine weitere halbe Stunde später, es sollte jetzt etwa zehn nach fünf sein, falls er den Fahrplan eingehalten hat, biegt er von der Schönhauser Allee aus in die Kastanienallee ein. Sein Fahrtziel ist der bis heute älteste noch immer von diesem Nahverkehrsmittel angefahrene Punkt an sich, die Station „Am Kupfergraben“ in Berlin-Mitte, die älteste Straßenbahnhaltestelle der Welt!    Beim Einbiegen in die Kastanienallee rumpelt sein Triebwagen stark und der Beiwagen droht in den ausgeschlagenen Gleisen fast aus den Schienen zu springen, deshalb drosselt er mit der Kurbel den Fahrstrom etwas. Und heute, ausgerechnet heute, kommt ihm der alte Gaul mit seinem Wagen vom Gemüsekrauter fast in die Quere, so dass er doch noch eine Vollbremsung hinlegen muss und froh ist, dass der hintere Schaffner das Unglück auch fast hat kommen sehen und schon griffbereit an der Handbremse des Beiwagens stand.Puh! Glück gehabt! ... der Gaul und er, ... während der Kutscher selbst, Fritze halt, der alte Dämel, vorn auf seinem Bock noch halb seinen Rausch von gestern auspennt und von all dem überhaupt nüscht mitgekriegt hat.Von fern betrachtet, unterscheidet die Szene von vor achtzig Jahren sich kaum von heute: ein riesiges Gewimmel an dieser Ecke. Von nahem unterscheidet sie sich sehr: Keine Jogger, keine Menschen, die sich mit jemandem unterhalten, der garnicht neben ihnen läuft, kaum Autos, dafür fast nur Pferdefuhrwerke, dazu die Pferdeäpfel auf den Straßen ... natürlich die meisten genau da, wo die Fußgänger sie überqueren. Eine Straßenbahn = Arbeitsplatz für gleich drei Menschen: ein Fahrer und zwei Schaffner.

Strom und Gas werden in den Häusern wöchentlich abkassiert. Der Gasmann kommt zu Ihnen! Erinnern Sie sich an den Film „Der Gasmann“ aus den 30er-Jahren mit Heinz Rühmann, nach einem Roman von Heinrich Spoerl?Radios sind in dieser Gegend hier eher noch spärlich, Hauptunterhaltung deshalb der Leierkastenmann und abends die Kneipe, die Spelunke oder der Prater.In jedem Haus „nützliche“ Geschäfte, vor allem Lebensmittel, denn Supermärkte gibt’s noch nicht. Kartoffeln werden, wenn man das Geld dazu hat, oder eine Laube mit Garten, eingekellert.Mitten auf der Kreuzung keifen sich zwei Zeitungsjungen an. Die Frühausgabe der „BZ am Mittag“, die erste Boulevardzeitung Berlins, (die ursprüngliche B.Z. erschien erstmals am 1. Januar 1878 im kurz zuvor gegründeten Ullstein Verlag als „Berliner Zeitung“, 1904 überarbeiteten die Zeitungsmacher das Konzept des Blattes und am 22. Oktober 1904 erschien erstmals die US-amerikanischen Vorbildern folgende „B.Z. am Mittag“, die letzte Ausgabe erschien am 26. Februar 1943, danach wurde die Zeitung als eine der Maßnahmen des „Totalen Krieges“ eingestellt) und „Der Völkische Beobachter“ (den gab es von 1920 – 30. April 1945 ... diese letzte Ausgabe wurde niemals ausgeliefert) kommen sich in der Zeitungsstadt Berlin (was sie damals schon war und heute wieder ist) öfters mal in die Quere. Jetzt fehlt eigentlich nur noch der Bengel, der die „Rote Fahne“ verhökert, damit es zu einer ordentlichen Massenkeilerei unterm U-Bahn-Viadukt kommt, aber der nächste Wagen der Linie 51 brettert schon mit Karacho auf die Kreuzung und so stoben die Jungen von allein auseinander und brüllen sich nur noch aus der sicheren Entfernung der gegenüberliegenden Straßenecken an, ... „Du Jurke!“ „Du Primel!“, bevor der nächste hastig vorbei eilende Passant sie in ein Verkaufsgespräch drängt.„Wat steht denn heute drinne? ... Na, Jöbbels traut sich wohl wieder nich alleene zum Prater.“Wer öfter als einmal pro Woche zum Vollbad ins Stadtbad Oderberger Straße geht, ist entweder belächelndswert reinlich („Vom zu vielen Waschen wird die Haut zu dünn!“) oder hat einfach beneidenswert viel Geld für solche „Kinkerlitzchen“ übrig. Berlin riecht noch anders. Zu den Abgasen aus Fabrikschloten und versotteten Kohleöfen in den Mietskasernen mischen sich noch die Ausdünstungen der Menschen und der Geruch nach echtem Land, nach den Hinterlassenschaften von Pferd, Kuh und von auf Balkonen gehaltenem Kleinvieh. Keine Frau trägt auf der Straße ihr Haar offen! ... Nein, also vermummt ist auch keine, aber eine „anständige“ Frau, noch dazu verheiratet, hat ganz einfach ihr Haar zu bedecken, wenn sie das Haus verlässt! In gehobeneren Kreisen leistet man sich mondäne Hütchen, die Arbeiterfrauen im Prenzlauer Berg tragen dagegen meist Kopftuch! Was in den letzten Jahren wieder „nach historischem Vorbild restauriert“ wurde, stand 1931 noch keine zwanzig Jahre: das Hochbahnviadukt. Dort, wo es heute steht, flanierten um 1910 noch gut betuchte Bürger mit Zylinder, Rüschenrock und Schoßhündchen. Die Schönhauser Allee sah damals wohl so ähnlich aus, wie heute die Greifswalder Straße zwischen Danziger und Königstor: in der Mitte der Streifen zum Flanieren, rechts und links davon Straßen- und Fahrbahn.

Eines erkennt Emil Müller in diesem Szenario im Jahre 1931. Aber dazu muss er erstmal aus der Straßenbahn der Linie 51 aussteigen ... Mist ... fährt schon wieder an ... also abspringen ... und jetzt entdeckt er das, was er sucht: Ein unscheinbarer Bauchladen! Am 4. Oktober 1930 gründete Max Konnopke mit seiner Frau Charlotte die bekannte Wurschtbude als Bauchladen. 
Als Lokalpatriot hielt ich Konopke immer für den Erfinder der Currywurst. Dem ist aber leider nicht so. Die Erfindung der Currywurst wird Herta Heuwer zugeschrieben, die nach eigenen Angaben erstmals am 4. September 1949 an ihrem Imbissstand an der Ecke Kant- /Kaiser-Friedrich-Straße in Berlin-Charlottenburg gebratene Brühwurst mit einer Sauce aus Tomatenmark, Currypulver, Worcestershiresauce und weiteren Zutaten anbot. Konnopke führte 1960 die Currywurst dagegen in Ost-Berlin ein.Wem diese Wurscht, nicht wurscht, sondern einfach nur viel zu teuer ist ... und das ist sie wirklich, damit sind wir endlich im Jahre 2011 angelangt, dem sei erzählt, dass im besetzten Haus in der Kastanienallee 86 von der dortigen autonomen Kommune regelmäßig kostenlos Essen an Bedürftige verteilt wird. Diese Leute sitzen auch in der Brunnenstraße 7 und verteilen dort auch. Sie organisieren das ganze ehrenamtlich und mit viel Engagement.
All das, was ich Ihnen heute nicht erzählen konnte, gibt’s in unserer Mai-Ausgabe. Wer will, den erwarte ich gern am Karfreitag den 22. April um 14 Uhr zu einem Kiezspaziergang durch Kastanienallee, Oderberger Straße und weiter über den Mauerpark bis zum Nordbahnhof. Dauer ca. zwei Stunden. Der Spaziergang ist kostenlos (Spenden willkommen) aber nicht umsonst!

Infos auch dazu auf meiner neuen Homepage.
✒ Rolf Gänsrich (April 2011)