JÜDISCHES LEBEN IN PRENZLAUER BERG, TEIL 2

Ehemalige Nachbarn

Das Haus Käthe-Niederkirchner-Str. 35 im Bötzowkiez war in der  Zeit der Nazidiktatur ein sogenanntes „Judenhaus“. Simon Lütgemeyer wohnt seit dem Ende der 1990er-Jahre dort und hat intensiv über die Geschichte der Bewohner des Hauses recherchiert.

 

Um die 3000 so genannter „Judenhäuser“ gab es nach Schätzungen in Berlin. Hier mussten jüdische Deutsche wohnen, damit die Abtransporte in die Konzentrationslager effektiver durchzuführen waren. Paul Samter und Fanny Hartogsohn wohnten bis zu ihrer Deportation in die Vernichtungslager in der Lippehner Str. 35. 


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Deportationsliste mit Nachbarn aus der Lippehner Str. 35 (heute: Käthe-Niederkirchner-Str.), Quelle: Arolsen Archivs

Paul Samter

Geboren am 25.3.1884 in Wollin bei Usedom, ist Paul Samter nach langjährigem Militärdienst vor und im 1.WK als Textilkaufmann und Vertreter mit eigenem PKW tätig, bis er zuletzt Zwangsarbeit als Straßenkehrer und im Streckenbau leisten muss. 1921 heiratet er die wie er aus Wollin stammende acht Jahre jüngere Else Herrmann, ein Jahr später wird ihr Sohn Heinz geboren. Anfang 1939 ziehen sie unfreiwillig aus der Bismarckstr. 111, wo die Familie laut Telefonbuch seit 1925 wohnt (zuvor Barbarossastr. 50), in die Lippehner Straße 35. 

An seinen Bruder Franz, der in Brunsbüttel unter Verfolgungen leidet, aber überlebt und nach mühevollem Kampf um Entschädigung 1970 in Hamburg stirbt, verfasst Paul einen Tag vor der Deportation mit seiner Frau nach Auschwitz im Februar 1943 einen Abschiedsbrief, der in den Akten der „Wiedergutmachungsämter“ (Landesarchiv) erhalten ist:

Meine sehr Lieben!

Wir treten jetzt die große Reise an.

Ihr erhaltet noch von anderer Seite ein Gedenken. Lebt alle recht wohl & laßt es Euch gut ergehen, unsere besten Wünsche begleiten Euch stets.

Herzliche Grüße & Küsse

Eure Else, Heinz & Paul

Beide werden vermutlich umgehend nach Ankunft ermordet. Ihr Sohn Heinz bleibt im Haus zurück und wird vier Monate später nach Auschwitz deportiert. 1944 wird er dort noch in einer Krankenakte aufgeführt und stirbt wohl wenig später.


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Paul Samter, Quelle: kaethe35.de
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Fanny Hartogsohn, Quelle: kaethe35.de


Fanny Hartogsohn

Am 18.1.1895 als Tochter des Schlachters Israel Hartogsohn und seiner Frau Ester geboren, wächst Fanny mit ihrer jüngeren Schwester Henny in Emden auf, wo sie 1920 den Schlachter und Viehhändler Carl Hartogsohn heiratet. Ihre Kinder Esther, Auguste und Philipp werden 1922-27 geboren.

Die Familie lebt sehr religiös, hat aber auch ein gutes Verhältnis zur christlichen Nachbarschaft. Mit dem Beginn der NS-Herrschaft, dem Schächtverbot und dem Boykott jüdischer Händler verschlechtern sich die Lebensbedingungen der Familie zunehmend. Beide Töchter müssen das Elternhaus früh verlassen, um als Haushaltshilfen zu arbeiten. Am 21.2.1940 werden Fanny und Carl zwangsweise nach Berlin umgesiedelt und ziehen in der Lippehner Straße 35 ein. Dort leben sie im VH 3.OG zusammen mit Familie Hamacher / de Vries, die ebenfalls aus Ostfriesland stammen.

Auch der zwölfjährige Philipp, der zunächst die jüdische Gartenbauschule in Ahlem besucht, zieht nach Schließung der Schule zu den Eltern ins Bötzowviertel. Drei Jahre leben sie unter größten Entbehrungen und ständiger Angst vor dem Abtransport. Am 3.2.1943 wird Fanny mit ihrem Ehemann Carl und Sohn Philipp nach Auschwitz deportiert und ermordet. Tochter Esther wird zwei Monate später kurz nach ihrer Hochzeit nach Auschwitz deportiert. Nur ihre Schwester Auguste kann 1940 noch entkommen, sie stirbt 2011 in Israel.

Seit 2017 erinnern nach Recherchen von Traute Hildebrandt sechs Stolpersteine am letzten frei gewählten Wohnort, vor der Lilienstraße 3 in Emden, an die Familie Hartogsohn. Und seit 2019 sind ihre Namen auch auf der Stillen Klingeltafel am Haus Käthe-Niederkirchner-Str. 35 zu finden.

Simon Lütgemeyer / M. Steinbach, Nov. 2021

Quelle: Dokumentation „Käthe 35“ (www.kaethe35.de)