Von Meisen, Pennern und Statuen

Zeitung Prenzlauer Berg Magazin
Bunt, für alle und meistens gut gefüllt: Der Arnimplatz an einem Winternachmittag.

Dem Arnim-Kiez haftete lange das Klischee des schmuddeligen Rand-Quartiers an: Unterhalb der historischen, doch lauten Bornholmer Straße gelegen, mit einem von Ratten besetzten Platz mittendrin und dem Wedding vor der Haustür. Ein Rundgang mit Menschen, die dort schon länger leben, verbunden mit der Frage, ob ihnen - einem alten Vorurteil von Prenzlauer Berg entsprechend - ihr Kiez heilig ist.

Irgendjemand hat ein paar Meisenkugeln in die Büsche gehängt. Einige Blaumeisen umflattern das lockende Futter, hängen sich kopfüber ans Netz und picken sich die Sonnenblumenkerne heraus. Friedlich läuft das ab, ohne Streit und Geschnatter. Die sprichwörtlichen frechen Großstadt-Spatzen, die zerzaust und zerrauft, einander gern das Futter streitig machen, sind weit und breit nicht zu sehen. Auch keine Ratten, mit denen der Arnimplatz im vergangenen Jahr Schlagzeilen machte.
An diesem frühlingshaften Winternachmittag wirkt es hier still und kultiviert.
Eine Verabredung mit einer Bewohnerin des Kiezes muss an diesem Platz beginnen. Er ist ein Zentrum des Lebens im Quartier – ob man nun Kinder hat oder nicht. Ende des 19. Jahrhunderts wurde er als parkähnlicher Stadtplatz angelegt, um dem Mangel an Erholungsflächen entgegen zu wirken. Auch der Arnim-Kiez war dicht besiedelter Proletarier-Kiez. „Umso wichtiger waren solche grünen Plätze, die nutzbar waren, ohne Eintrittsgeld zu erheben.“, heißt es in einer Beschreibung der Senatsverwaltung.
Wichtig und kostenlos ist die Platznutzung immer noch. „Hier ist eigentlich immer was los.“, sagt Kathrin, die Arnim-Bewohnerin. An schönen Tagen stehen die Kinder vor den Spielgeräten Schlange, Anwohnerinitiativen und anliegende Kitas laden zu Festen.

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Kleingarten-Idylle mitten auf dem Platz.

Ursprünglich ist Kathrin, mit der wir zum Kiez-Bummel verabredet sind, vor vielen Jahren wegen der günstigen Miete hierher gezogen. In eine Wohnung einer Wohnungsbaugenossenschaft, die nicht schick, aber ruhig, hell und gut bewohnbar ist. Sie und ihr Lebenspartner haben das Bad selbst saniert und Dielen in die Zimmer gelegt. Dafür haben sie mit der Genossenschaft eine Mietpreisgarantie verabredet. Die Fluktuation in ihrem Haus ist gering, die älteste Mieterin lebt seit 35 Jahren hier. Die ruft auch gern mal die Polizei, wenn das Kind in der Wohnung obendrüber zu laut ist – nicht wegen des Lärms, aus Sorge um das Kindeswohl.
Damals, Ende der 90er, war der Kiez ein unentdecktes Rand-Quartier – ein Puff lag nicht weit weg, es gab noch ein paar typische Berliner Eck-Kneipen, nachts grölten die Betrunkenen. Auf der Freifläche vorm Haus trafen sich Penner. Die jahrzehntelange Existenz unweit der Berliner Mauer hatte ihre Spuren hinterlassen.
Inzwischen hat auch der Arnim-Kiez seine Gentrifizierungs-Skandale, doch sie scheinen hier unbemerkter vonstatten zu gehen als in den südlichen Sanierungsbezirken. Inzwischen siedeln hier kleine Werbe-Agenturen, die ersten schicken Italiener eröffnen unweit des Platzes Lokale.  Abends ausgehen ist jetzt direkt vor der Haustür möglich, man muss nicht mehr rüber auf die Schönhauser Allee oder weiter in die Stargarder Straße.

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Vorbild für Verliebte: Die Bronzestatue Bettina und Achim von Arnims steht seit 1996 auf dem Platz. Fotos (3): al

Gibt es einen Identifizierungsfaktor mit diesem Kiez? Kathrin lacht und verweist auf die in ihren Augen einzigartige Mischung. Immerhin hat hier der erste Berliner Vegan-Markt eröffnet, gibt’s unweit von hier ein genossenschaftliches Wohnmodell und eine alteingesessene Bäckerei, für deren Schrippen und Kuchen die Menschen Schlange stehen. Tatsächlich. Brav und still aneinandergereiht, trotzen Alt- und Neubewohner jeglicher Wetter-Unbill und warten, bis sie in den winzigen Laden eingelassen werden. Das Interieur ist altmodisch, die Verkäuferinnen pragmatisch und professionell. Berlin-Atmosphäre vergangener Jahrzehnte. So sortiert sich der Brötchen-Markt in diesem Quartier ganz von selbst: Durch Tradition und guten Ruf. Es gilt als Sakrileg, im Arnim-Kiez zu wohnen und nicht in diesem Laden seinen Rhabarberkuchen oder seine Hörnchen zu kaufen („die schmecken wie früher!“). Die Bäckerei drei Häuser weiter ist gähnend leer.
Der Kiez ist, immer noch, ein vor allem ruhiger Wohn-Kiez. Mit Familienzuwachs. Unter die Stimmen der Kinder und Eltern auf dem Spielplatz mischen sich zunehmend englische, isländische, spanische Stimmen. Das Geburtshaus hat eine lange Anmeldeliste. Leute, denen Wins- oder Kollwitz-Kiez zu schick geworden sind, ziehen hierher und finden Ruhe. Sie bringen ihre Kinder nachmittags in die Jugendfarm Moritzhof im Mauerpark oder zum Basketball-Training nach Weißensee.
Auf dem Arnimplatz toben kleine Kinder um das Denkmal von Bettina und Achim von Arnim. Seit 1996 steht die Bronzeskulptur hier und zeigt das Romantiker-Paar in liebevoller, zärtlicher Pose. Kein Wunder, dass kleine Kinder auch gern in Schoß und auf Schultern der von Arnims klettern, als wollten sie sich dazuschmiegen.
Verliebte ältere Paare bleiben stehen und schauen zu. Ein fröhlich-harmloser Betrunkener will unbedingt fotografiert werden. Das Leben ist hier mit sich zufrieden, so scheint es.
In einer der Grundschulen des Kiezes ist es laut an diesem Nachmittag. Die halbwüchsigen Kids daddeln mit ihren Handys herum, schubsen sich und kichern. Kathrins Tochter wird gleich kommen und erzählen, wer in ihrer Klasse „Assi“ ist und wer cool. „Assi“ sind die Kinder, die aus dem Wedding herüber kommen. Cool das Mädchen, dessen Eltern einen Schmuckladen besitzen.
Die Elfjährige ist ein Kiez-Kind, geboren im Geburtshaus,  aufgewachsen in einer Kita und der Grundschule. Wenn sie im nächsten Schuljahr auf eine weiterführende Schule wechselt, dann wird sie ihre Kiez-Grenzen zum ersten Mal täglich verlassen. Was den Unterschied zu einem Kinder-Leben im Bötzowkiez ausmacht, das weiß sie nicht. Möglicherweise gibt es den in diesem Alter auch nicht. Der Arnimplatz ist ihr Heimatplatz, auf den Spielgeräten indes tobt sie schon längst nicht mehr. „Das ist was für Babies“. Sie trifft sich nach der Schule mit ihren Freunden zu Hause, auf dem Platz oder vor der neu erbauten Sporthalle. Und zum Shoppen ziehen sie auf die Schönhauser Allee.
Die Meisen haben ihre Meisenkugeln im Gebüsch fast leergepickt. Nun gibt es doch Krach. Als sie aufstieben, weil ein von der Leine gelassener Hund sie jagen will. Natürlich sind sie schneller als der großstädtische Vierbeiner.
-al- (März 2015)