ODERBERGER STRASSE

Die Straße der Frauen

Ein neuer Band der Reihe „Berliner Orte“ porträtiert die Oderberger Straße. Nadja und Freya Klier zeichnen darin den Straßenverlauf in Historie, Eigenheiten und individuellen Erinnerungen. „Die Oderberger Straße“ ist eine Begegnung mit dem Auf und Ab Berliner Lebens über nahezu 150 Jahre hinweg.

 

Nicht so lang wie andere Straßen, dafür doppelt so breit. 65 Kinderschritte bis zum Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ungezählte Schritte bis zum Ende der Straße, bis zur Mauer. Der Blick der Fotografin Nadja Klier auf die Oderberger Straße ist zunächst ein kindlicher Blick. Nadja Klier hat in dieser Straße zehn Jahre ihrer Kindheit verbracht. Das ist eine lange, prägende Zeit in den turbulenten 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Für das Mädchen Nadja und ihre Mutter Freya Klier, die Bürgerrechtlerin und Theaterregisseurin, endet sie abrupt - mit der Abschiebung 1988 aus der DDR in die Bundesrepublik. Jetzt, knapp 30 Jahre später, haben Tochter und Mutter gemeinsam den Band „Die Oderberger Straße“ verfasst. Bereits vor einigen Jahren widmeten sie ihrer Straße einen Dokumentarfilm, in dem sie Historie, Gegenwart und persönliche Sicht miteinander verwoben. Es scheint, von dieser 600 Meter kurzen Straße zwischen Schönhauser Allee und Bernauer Straße, die heute eine der touristischen Schneisen zum Mauerpark ist, geht eine besondere Faszination auf die beiden Frauen aus.

Zeitung Prenzlauer Berg Kiezzeitung
Schön breit, breit genug für Flaneure und Pferdefuhrwerke – die Oderberger Straße beschreiben Nadja und Freya Klier in einem neuen Buch.

Das Aquarium-Gefühl

Mit den Kindheitserinnerungen von Nadja Klier beginnt das 144seitige Buch. „Ein großer Spielplatz“ ist die Straße für das Mädchen. Zwischen der ältesten noch betriebenen Feuerwache Deutschlands und dem Schwimmbad, dem Stadtbad Oderberger Straße, liegt der Aktionsradius. Denn an einem Ende der Oderberger ist Schluss. Dort, hinter der Mauer, „steht ein Podest, von dem der Rest der Welt auf die DDR schaut wie in ein Aquarium.“ Wie lebt es sich in dieser Begrenzung, unter den Blicken der freien Welt? Auf dem Hirschhof nahe der Kreuzung zur Kastanienallee spielt das Mädchen Kinderspiele. Die Mutter spielt dort Theaterstücke mit ihrem Partner Stephan Krawczyk. Ein auch ideeller Freiraum ist der kleine Park mit dem Hirsch, den Anwohner mit Grün und Kunst beleben und der schnell zum Treff der Untergrundkultur der DDR wird. Die Utopie eines besseren Landes lebt indes unter den Augen der Staatssicherheit.

 

Persönliche Berliner Orte

Mit der Reihe „Berliner Orte“ porträtiert der be.bra-Verlag seit einigen Jahren Straßen und Kieze im wachsenden Berlin. Er lässt sie von Autorinnen und Autoren porträtieren, die eine ganz individuelle Bindung an diese Gegenden haben, weil sie dort aufgewachsen sind oder länger dort gelebt haben. Das macht den Charme der Reihe aus, weil wir auf diese Weise den Straßen und Plätzen in der Begleitung ihrer intimen Kenner begegnen. „Die Oderberger Straße“ ist der zweite Band aus Prenzlauer Berg, nach „Meine Winsstraße“ des Filmjournalisten Knut Elstermann. Die Radiomoderatoren Volker Wiebrecht und Andreas Ulrich gehören mit ihren Kiezen ebenso zu den Autoren von „Berliner Orte“ wie der Liedermacher Manfred Maurenbrecher und wie Kurt Tucholsky, Joachim Ringelnatz oder Walter Benjamin mit neu aufgelegten Texten.

Zeitung Prenzlauer Berg Kiezzeitung
Stuck mit Himmel: An der Ecke Kastanienallee trifft Historie auf Kommerz und Tourismus. Fotos (2): al

Breit genug für Pferdefuhrwerke

Zurück zur Oderberger. Nach den einleitenden Kindheitserinnerungen von Nadja Klier berichten die beiden Autorinnen abwechselnd. Sie schlagen den Bogen von der Historie bis in die unmittelbare Gegenwart. 1871 bis 1873 wird die Oderberger gebaut – als Verbindungsstraße vom damaligen Güterbahnhof im heutigen Mauerpark bis zur Schönhauser Allee. Sie ist breit genug, dass Pferdefuhrwerke auf ihr die angelieferten Güter bequem transportieren können – und lässt mit ihren breiten Bürgersteigen den Flanierenden Raum. Wie die Nachbarstraßen des Quartiers  - Anklamer, Bernauer oder Schwedter Straße - erhält sie ihren Namen nach einer Stadt nordöstlich von Berlin. Die typischen Hinterhofbauten der schnell wachsenden Stadt entstehen auch an der Oderberger Straße, Stuckfassaden zieren die Bauten zur Straßenseite hin.

Es ist die Zeit von Kerzenlicht und Gaslaternen – die Zeit hoher Brandgefahr. 1883 entsteht deswegen die Feuerwache in der Straße, die heute noch als dienstälteste Wache in Betrieb ist. Es ist auch die Zeit, da die engen Hinterhofwohnungen über keine eigenen Bäder verfügen – 1902 entsteht das Stadtbad Oderberger Straße mit Wannen und Duschen für die Bevölkerung des Prenzlauer Berges. Das im vergangenen Jahr als Hotel mit Schwimmbad wiedereröffnete Stadtbad und die Feuerwache sind heute noch Besonderheiten der Straße. Für Naja Klier waren es Teile ihres Spielplatzes. Heute sind es Anziehungspunkte für Touristen – neben den zahlreichen Restaurants, Cafés und Kneipen, Boutiquen und Retroläden auf dem Weg von Kastanienallee zum Mauerpark und zurück.

Vom ersten Weltkrieg und der Wirtschaftskrise und ihren Auswirkungen auf die Bewohner und die vielen kleinen Läden der Straße. Vom Nazi-Regime und den Bomben des Zweiten Weltkrieges, die die Oderberger weitestgehend verschonten über Mauerbau, der Straße als Biotop für Künstler und Unangepasste in der DDR - bis zu Sanierung und Wandel nach der deutschen Wiedervereinigung. Kapitel für Kapitel beschreiben Nadja und Freya Klier ihre Oderberger Straße. Sie machen eine Bewohnerin ausfindig, die seit den 50er Jahren dort lebt, sie schildern skurrile Erlebnisse und Anekdoten und fügen so die Geschichte einer Straße ein in die Geschichte Berlins und Deutschlands.

Zu den beiden Autorinnen: Freya Klier, geboren 1950 in Dresden, ist Schriftstellerin und Dokumentarfilmerin. In der DDR arbeitete sie bis zu ihrem Berufsverbot als Theaterregisseurin und war 1980 Mitbegründerin der DDR-Friedensbewegung. 1988 wurde sie verhaftet und mit ihrer Familie unfreiwillig ausgebürgert. Freya Klier erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz und den Franz-Werfel-Menschenrechtspreis. Nadja Klier, geboren 1973 in Dresden, ist Fotografin und Filmproduzentin. Außerdem arbeitet sie als Produzentin für Dokumentarfilme. Seit 2013 hat sie das Schreiben für sich entdeckt.

-al-, November 2017

Mehr auf: www.bebraverlag.de