LEBENSENTWÜRFE IN PRENZLAUER BERG

Ein ganz normales Haus

Ein Haus mit neun Mietparteien und einem Gewerberaum im Erdgeschoss, halbwegs saniert, aber nicht so schick. Neun Familien bzw. Singles und deren Bewohner. Bunter Mix, für Prenzlauer Berg ganz normal. Ein Hausbesuch.

Zeitung Prenzlauer Berg Magazin
Baujahr 1903, leicht saniert. Treppenhaus des Wohnhauses im Gleimviertel.

Das Haus steht im Gleimviertel. Nicht sonderlich schick, doch saniert. Keine zwei Balkone, auch keine zwei Bäder in den Wohnungen. Normaler Standard, die Fassade in getöntem Weiß. Miete bezahlbar. Unten ein Kulturcafe, daneben und obendrüber wohnen neun Mietparteien. Wer lebt in diesem Haus und wie wohnt es sich?

Im Kulturcafe, das erst vor wenigen Monaten eröffnet hat, ist an diesem Winternachmittag wenig los. Nachmittagsflaute. Abends soll es eine Veranstaltung geben, auf der Bauern der Region ihre Produkte vorstellen. Eine Vermarktungsaktion, mit der das Cafe seinen Anspruch, Genuss und Kultur zusammenzubringen, ganz praktisch auf die Genüsse anwendet. Das kommt gut an. Auch einige der Hausbewohner obendrüber haben sich angemeldet.  

Wer lebt in diesem Haus? Im Erdgeschoss neben dem Cafe eine ältere Single-Frau, Hannelore, Ernährungsberaterin aus Düsseldorf. Als ihre eigenen Kinder erwachsen waren, hat sie nochmal neu begonnen. In Berlin. Weil die Stadt so lebendig ist und weil man hier so viele Bühnen zum Tango-Tanzen hat. Sie betreut die Kinder der Nachbarn, wenn diese abends ausgehen wollen oder einen Arzt-Termin haben. Die liebenswerte Nanny des Hauses, mit rheinländischem Akzent. 16 Kinder leben in diesem Haus, im Alter von drei Monaten bis zu 13 Jahren. Ein junges Haus. 

Nachmittags, nach Schule oder Kita, und an den Wochenenden flitzen die älteren Kinder durch das Treppenhaus, meistens barfuß, im Winter in Strümpfen, und besuchen sich gegenseitig. 

Direkt über der Rheinländer Nanny lebt die binationale Familie des Hauses. Anita, Spanierin mit deutschen Vorfahren. Ricardo, Kanadier mit spanischen Wurzeln. Beide Entwicklungshelfer, lernten sie sich bei einem Projekt in Lateinamerika kennen. Es war ein Regenwald-Projekt. Kleine Bauern wurden beim Anbau ihrer Produkte unterstützt, damit sie wirtschaftlicher arbeiten können und nicht den Regenwald abholzen müssen, um sich und ihren Familien die Existenz zu sichern. 

Zeitung Prenzlauer Berg MagazinWährend eines gemeinsamen Urlaubes entdeckten Anita und Ricardo Berlin. Dann kam ihr erstes Kind zur Welt, es wuchs mit den Eltern in Lateinamerika auf. Dann kam das zweite Kind. Die Familie entschied sich, für einige Zeit m
Ein bisschen Garten im Hinterhof, auch im Winter. Terrasse des ganz normalen Hauses.

Während eines gemeinsamen Urlaubes entdeckten Anita und Ricardo Berlin. Dann kam ihr erstes Kind zur Welt, es wuchs mit den Eltern in Lateinamerika auf. Dann kam das zweite Kind. Die Familie entschied sich, für einige Zeit mit der Entwicklungsarbeit zu pausieren, um den Kindern ein stabiles Zuhause zu geben. So zogen sie vor drei Jahren nach Berlin. Anita arbeitet bei der Botschaft; Ricardo sorgt für die Kinder. Wenn sie miteinander sprechen, vermischen sich die Sprachen. Spanisch, englisch und deutsch. Mühelos switchen die Kinder zwischen diesen drei Sprachen hin und her. Wenn die Großeltern zu Besuch aus Spanien und Kanada kommen, dann wird es eng in der Drei-Zimmer-Wohnung. Ins Treppenhaus ziehen dann die würzigen Gerüche der Speisen, die die binationale Familie kocht. Irgendwann in diesem Sommer, sagt Ricardo, will er auch einmal für das ganze Haus kochen.

Denn eine Hausgemeinschaft im Sinne gemeinsamer Aktivitäten ist dieses Haus nicht. Es gibt Kontakte über die Kinder. Es gibt Gespräche beim zufälligen Treffen am Briefkasten und an den Mülltonnen oder den Fahrradständern im Hof. Ein junges Haus mit kurzer Vergangenheit.

Diejenigen, die am längsten hier wohnen, sind Christin und Jens. Erst lebte Christin allein hier, dann zog Jens zu seiner Freundin. Als die Tochter geboren wurde, zogen sie ein Stockwerk höher in eine größere Wohnung, die zufällig frei wurde. 11 Jahre ist das her. 

Christin und Jens sind Mitte der 90er Jahren nach Berlin gekommen, beide aus Thüringen. Obwohl sie beide das gleiche Heimat-Bundesland haben, lernten sie sich erst in Berlin kennen. Auf einer Party in der Kulturbrauerei. Sie war zum Studium nach Berlin gekommen, er wegen eines attraktiven Jobs. Heute sind sie Mitte 40 und haben eine 12jährige Tochter. Eine echte Prenzlauer Bergerin, darauf ist sie stolz. Den thüringischen Akzent ihrer Eltern hat sie übernommen. Manchmal berlinert sie. 

Warum Christin und Jens damals nach Prenzlauer Berg zogen? Weil er der einzige Stadtbezirk war, der für lebenshungrige, neugierige junge Menschen aus der Kleinstadt geeignet schien. Weil er bunt und schillernd und so anders war als die Herkunftsprovinz.

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Kinderspuren auf engstem Raum. 16 Kinder leben in diesem Haus. Fotos (3): al

Und heute? Heute ist sie Pressesprecherin eines großen Unternehmens. Er ist Berufsschullehrer. Der gelernte Handwerker hat in der Wohnung selbst sehr viel hergerichtet, ein- und umgebaut. Die Wohnung atmet viel Holz – in der Küche, im Kinderzimmer der Teenager-Tochter. 

Die Tochter spielt Basketball bei Alpha Berlin und will nach einer Karriere als Sportlerin Polizistin werden. Sie spielt jetzt auf dem freien Platz unweit ihres Hauses manchmal Basketball mit den Flüchtlingskindern, die in einer Notunterkunft in der Nähe untergebracht sind. Einem der Jungen hat sie ihren Ball geschenkt. Weil der beim ersten Abschied so traurig geguckt hatte.

Ein ganz normales Haus? Seine Bewohner sagen ja. Auch Andrea und Christoph, das einzige Paar ohne Kinder. Auch sie wollen, wie Anita und Ricardo, wie Christin und Jens, nicht fotografiert werden. Aber sie wollen gern erzählen, woher sie kommen. Aus Spandau er, aus Chemnitz sie. Obwohl sie nun schon zehn Jahre ein Paar sind, sei die West-Ost-Herkunft immer noch ein Thema, sagt Andrea. Das beginnt bei den unterschiedlichen Ansprüchen an Putzmittel und Geschirr und endet in der jährlichen Auseinandersetzung darüber, wie nun Weihnachten zu feiern sei. Mit Kirche oder ohne? 

Christoph ist wegen Andrea nach Prenzlauer Berg gezogen. Denn sie, die seit 20 Jahren im gleichen Kiez lebt, wollte nicht weg. Nicht aus dem Stadtteil, auch nicht aus dem Kiez. Inzwischen ist Christoph, der Spandauer, schon ein richtiger Hipster geworden, sagt er selbst. Die beiden Stadtteile seien schon zwei sehr verschiedene Welten, obwohl nur wenige Kilometer voneinander entfernt. Weniger Grün, mehr Internationalität, mehr Lifestyle hat Prenzlauer Berg, sagt Christoph. Und weniger Hunde als in Spandau.

Das Haus hat eine Katze. Die liegt gern auf den Mülltonnen im Hof und faulenzt. Manchmal schleicht sie sich in die Keller, manchmal kommt sie ins Treppenhaus und miaut, wenn die Tür verschlossen ist. Dann kommt Hannelore, die Rheinländer Nanny, und lässt sie wieder raus.

-al- Jan. 2016