Kastanienallee / Teutoburger Platz:

91 Prozent des Gebietes wurden vor 1919 gebaut

Zeitschrift Prenzlauer Berg Magazin Kastanienallee

Ich führe seit einem Jahr gemeinsam mit dem Berliner Michael Fielsch – bekannt als Verfechter des Bedingungslosen Grundeinkommens BGE –, an jedem zweiten Samstag im Monat durch diesen Kiez. In der Hoffnung, dass Sie einmal zu einem der Kiezspaziergänge kommen, seien heute deshalb einige Dinge nur am Rande erwähnt. Ein Gebäude, das ich bei den Kiezerkundungen immer auslasse, ist die Polizeiwache in der Eberswalder Straße.

Sie gehört zum Polizeiabschnitt 15 und ist zuständig für einen Bereich, in dem ca. 67.000 Men­schen auf gut 4 km² Fläche leben. Auf der Homepage ist nachzulesen, dass die Beamten pro Jahr gut 1.600 Einsätze haben. Das Gebäude wird erst seit Mitte der 90er Jahre von der Polizei genutzt, vordem saß sie u. a. mit einer „Meldestelle“ in der ersten Etage des Eckhauses Pap­pel­allee/Danziger Straße.

Stattdessen war in dem Gebäude in der Eberswalder Straße die Post untergebracht. Nicht ganz unlogisch, denn dort auf dem Areal des heutigen Mauer­parks war bis 1982 auf Wed­dinger Seite – seit dem  am 13.August 1961 durch den Mauerbau von Prenz­lauer Berg abgetrennt – der Post- und Gü­ter­bahnhof des Nord-, ehemals Stettiner Bahnhof.

Während der Jahre der deutschen Teilung kam es immer mal wieder zu Ge­biets­austauschen zwischen Ost- und West­berlin, die natürlich zuvor auf höchster Ebene von den vier Berliner Besatzungsmächten abgesegnet wurden.

Bis mich  jüngst ein Gast meiner Kiez­spaziergänge berichtigte, war ich davon ausgegangen, dass 1982 das Lennè-Dreieck am Potsdamer Platz (damals Berlin West) mit dem Areal des Mauerparks (Berlin Ost) aus strategischen Gründen getauscht worden wäre. Während der Teilung Berlins gab es am Alexanderplatz neben dem S-Bahn­steig noch ein drittes elektrifiziertes S-Bahn-Gleis, heute dient es der Fernbahn. Geplant war, eines dieser S-Bahn-Gleise in Richtung Hackescher Markt in einen neuen S-Bahn-Tunnel zu führen. Dieser Tunnel sollte u. a. die Schwedter und Oderberger Straße unterqueren, im Mauerpark wieder an die Oberfläche gelangen, um dann Richtung Pankow wieder ins normale Gleisnetz eingeschlauft zu werden. Die Planungen waren weit gediehen und auch die Grenztruppen und Erich Mielkes MfS  hatten ihr OK. zu diesem Vorhaben gegeben. Aber um diesen Plan zu verwirklichen, fehlte es letztendlich an Geld und noch vor dem ersten Spatenstich kam es zur deutschen Wiedervereinigung, so dass man solch eine S-Bahn-Verbindung nicht mehr brauchte.

Nun möchte ich noch eine andere Ecke mit Ihnen besuchen. Ich wusste bisher nicht, dass es in der Fehrbelliner Straße 92 einst ein jüdisches Kinderheim gab. Dieses Heim wurde 1897 in der Lothringer Straße (der heutigen Torstraße) gegründet und zog 1910 in die Fehrbelliner um. In ihm wohnten anfangs zwanzig, mit zunehmendem Druck durch die Nazis auch dreißig und mehr Kinder. Außerdem wurden fünfzig bis sechzig jüdische Schulkinder betreut. Am 1. Juli 1942 wurde das Gebäude zwangsverkauft.

Heute residiert in dem Gebäude ein Stadtteilzentrum. In einer Dauerausstellung dort kann man mehr über das einstige jüdische Kinderheim erfahren. Neun­undvierzig von diesen Kindern gelang übrigens noch in letzter Sekunde die Flucht vor der Deportation, dies kann man einer Erinnerungstafel am Haus entnehmen. 

Im Archiv des Prenzlauer Berg Museums (Prenzlauer Allee 227, Tel. 42 40 10 97) kann  man den kompletten Lebenslauf eines der Heimkinder nachlesen. 1996 wurde ein Interview geführt, aus dem ich ein paar Fakten hier auslisten möchte: Frau G., Jahrgang 1924, kam mit fünfzehn als Kinder­gartenlehrling in das Heim. Sie erhielt 1941 eine Vorladung zur Zwangs­arbeit bei „Blaupunkt“, wurde 1943 verhaftet und 1944 in ein Lager in der Großen Hamburger Straße gebracht, dort wurde im selben Jahr ihre Tochter Helga geboren. Nach dem Krieg arbeitete sie in einem jüdischen Kindergarten in der Joachimsthaler Straße und schließlich in einem Altersheim in Nieder­schöne­weide. Ihr Vater war von den Nazis ermordet worden, mit ihrer Mutter lebte sie bis zu deren Lebensende zusammen.

Zeitschrift Prenzlauer Berg Magazin Kastanienallee

Die letzte Heimleiterin in der Fehrbelliner Straßee war Ida Bamberger, am 17. September 1891 geboren. Nach dem Zwangsverkauf des Heimes gibt es nur noch eine Lebensmeldung von ihr. Am 24. November 1942 musste sie eine Vermögenserklärung abgeben; seitdem gilt sie als verschollen.

Noch ein paar Sätze zur Bausubstanz im Viertel zwischen Teutoburger Platz und Kastanienallee (kolportiert als „Casting-Allee“), die ja weltweiten Ruhm als „die“ Fashion-Meile hat: einundneunzig Prozent des Gebietes wurden vor 1919 erbaut, davon etwa sechsundvierzig Prozent noch vor der Reichsgründung 1870. Nur etwa sechs Prozent der Wohnungen wurden während des Zweiten Weltkrieges zerstört. Diese dicht besiedelten Flächen sind entsprechend hoch versiegelt, so dass etwa neunzig Prozent des Oberflächen­wassers (Regen) direkt in die Kanalisation und dann direkt in die Spree fließt.   

Zur Versorgung der Bevölkerung gibt es u. a. drei Supermärkte direkt im Gebiet, in Reichweite sind außerdem der Markt in der Schön­hauser Allee, Höhe Fehrbelliner Straße, dort befindet sich noch ein Biomarkt, wie auch direkt am U-Bhf. Senefelder Platz. In einem ehemals besetzten Haus in der Lottumstraße 10 gibt es das alternative Kiezprojekt „Freuden­haus“ und beinahe darunter hat das freie, nicht kommerzielle „Pi Radio“ sein Rundfunkstudio. 

Vielleicht wundert sich der eine oder andere, der das Gebiet durchstreift, dass die Straßen so „schief“ angeordnet sind und es immer wieder spitz zulaufende Ecken gibt. 

Dies hat (wer hätte es gedacht !) historische Ursachen. Um 1826 kaufte Wilhelm Griebenow große Grundstücksflächen am Rande Ber­lins und legte die ersten Straßen an, unter anderem auch die Kas­ta­nienallee und die Choriner Straße. Der preußische Stadtplaner James Hobrecht war für den nach ihm benannten Plan aus dem Jahre 1862 verantwortlich. Auf die fertigen Straßen und Wege von Wilhelm Griebenows Grundstücken wurde einfach der Hobrecht-Plan gelegt.

Und so überschneiden sich in dem Gebiet zwei unterschiedliche Stadt­planungen, die rein zeitlich etwa fünfunddreißig Jahre auseinander liegen. 

Noch vor einiger Zeit konnte man von der Torstraße aus beiden Rich­tungen in die Gormannstraße (ab Zehdenicker Str. Choriner Straße), ein­biegen. Da war diese Straße  noch vorfahrt berechtigte Haupt­straße für PKW, heute für Fahrräder.

Hier ein kleiner Auszug von Wiki­pedia dazu: „Eine Fahrradstraße ist eine für den Radverkehr vorgesehene Straße. Sie soll die Attraktivität des Radverkehrs steigern und Vorteile gegenüber dem Kraft­fahrzeugverkehr schaffen. Dabei ist zu beachten, dass die Fahrradstraße nicht mit der Radverkehrsanlage (Radweg) verwechselt wird, … Fahrräder sind die einzigen erlaubten Fahrzeuge … andere Fahrzeuge können mit Zusatz­zeichen erlaubt werden. ... Die Höchst­geschwindig­keit beträgt für alle Fahrzeuge 30 km/h. Radfahrer dürfen ausdrücklich nebeneinander fahren, auch wenn dadurch der Verkehr behindert wird. Kraftfahrer müssen gegebenenfalls ihre Geschwindig­keit verringern, um eine Behinderung oder Gefähr­dung von Radfahrern zu vermeiden. ...“

Also, in der Choriner sind die Fahr­räder der Boss, wenn Sie mit dem Auto unterwegs sind, seien Sie schön vorsichtig oder wählen einen anderen Weg ...

Rolf Gänsrich (April 2012)