Wenn Träume Klischees werden

Zeitschrift Prenzlauer Berg Magazin Kolle
Wahrscheinlich eines der meistfotografiertesten Motive rund um den Kollwitzplatz, aber immer wieder schön: Wasserturm und Fernsehturm, von der Rykestraße aus gesehen.

Wieviele Generationen von Kindern spielten eigentlich schon am Kollwitzplatz? Und wieviele Mütter saßen dabei und schauten ihnen zu und sinnierten währenddessen: Über die Kinder, die Freiheit oder das baldige Häuschen in der Uckermark? Ein Spaziergang durch die Bilder, die Zeiten und die Realitäten eines Symbols.

Gleich am Anfang begegnen sie einem: Die Mütter vom Kollwitzplatz stehen an der Ecke Ryke-/Wörtherstraße. Vier nebeneinander, mit bunten Strickmützen und freizügigen Ausschnitten, vier Kinderwagen wie Bollwerke vor sich herschiebend. Nicht in Natura diesmal, als Cover eines Car­toon-Bandes, im Schaufenster eines Rahmen-Geschäf­tes. Das Cover ziert das Buch des Berliner Zeichners OL, der mit den „Müttern vom Kollwitzplatz“ die Klischees auf dem Spielplatz rund um das Kollwitz­denkmal  augenzwinkernd gezeichnet und kommentiert hat. Den Latte Macchiatto natürlich inklusive und die schöne Frage eines Knirpses an sein mitspielendes Mädchen: „Bist du eigentlich noch mit deinen Eltern von voriger Woche zusammen?“
Ein paar Straßen weiter sitzen sie dann am realen Kollwitzplatz, die realen Mütter und Väter. Sitzen und stehen um die schönen hölzernen Spielgeräte und lassen ihre Kleinen toben. Die Erwachsenen reden, ruhen sich aus. Träumen wohl auch in der letzten sommerwarmen Herbst-Sonne. Träumen vom perfekten Kind möglicherweise oder vom idyllischen Häuschen in der Uckermark. Wer weiß das schon?
Es ist so eine Sache mit dem Kollwitzplatz und den Klischees. „Wir waren damals ja auch schon Mütter vom Kollwitzplatz“, sagt eine, die seit Anfang der 80er Jahre auf der Wörther Straße lebt. Sie steht im 4. Stock ihres schönen alten Gründerzeit-Hauses und schaut hinunter auf den Platz. Da unten, da hat sie damals gesessen mit den anderen Müttern und hat ihre Tochter spielen lassen. Es gab weniger Autos in den Straßenzügen um den Platz und noch keinen coffee to go. Dafür Visionen und Träume, wie eine wirklich freie Welt aussehen könnte.
Die Kinder von damals sind jetzt selbst Mütter. Und weil sich vor 24 Jahren die Träume ihrer Eltern erfüllten und die Mauer fiel, können sie ihre Kinder auf anderen Spielplätzen spielen lassen, irgendwo auf der Welt. Oder in Berlin-Schöneberg. An Orten, die ihren Eltern unerreichbar schienen. Dieser Platz jedenfalls, eher die Menschen, die in den 80ern dort lebten, haben dazu beigetragen. Und viele dieser Menschen, allen Verdrängungs-Rufen zum Trotz, leben noch immer in den romantischen Straßen zwischen Schönhauser und Prenzlauer Allee. Haben, als ihre Häuser mit den riesigen Toreinfahrten saniert waren,  ihre Holz­bänke wieder davor gestellt und Kapuzinerkresse und Geranien in alte Emaille-Wäschetöpfe gepflanzt.

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Die Touristen waren hier: Lose-Blatt-Sammlung von BVG-Plan und den letzten Herbstblättern auf dem historischen Pflaster am Kollwitzplatz. Fotos (2): al

Vis a vis dem Wasserturm blüht die letzte Kapuziner­kresse in diesem Jahr. Davor blockiert eine Gruppe Touristen auf ausgeliehenen Fahrrädern die Straße. Wieder so ein Klischee, das die Realität bestätigt. Die Fahrräder sind leuchtend orange, die Touristen gehören der Generation 60plus an. Sie wirken wie in eine fremde Welt geschubst und so, als hätten sie seit Jahrzehnten nicht mehr auf einem Fahrrad gesessen. Sie wirken auch so, als wüssten sie nicht, warum sie sich ausgerechnet den Wasserturm anschauen sollen. Was, bitte, ist denn nun besonderes an diesem Prenzlauer Berg?
Dann bleibt doch am Hackeschen Markt! möchte man ihnen zurufen, da gibt es so viele von Euch, da fallt Ihr nicht weiter auf. Da findet Ihr schon etwas Sehenswertes. Dann blockiert ihr hier wenigstens nicht die Straßen für die, die hier leben und es eilig haben.
Was wäre der Kiez ohne die Touristen? Die Märkte auf dem Kollwitzplatz wären leerer, na gut. Die Restau­rants wären es auch. Einige von ihnen gäbe es nicht. Keine internationale Küche, kein internationales Stimmengewirr. Der Kiez wäre irgendwie provinziell. Die einzige fremde Sprache wäre wahrscheinlich ... Schwäbisch.
Noch so ein Klischee. Glaubt man Wikipedia, dann leben am Kollwitzplatz nicht mehr Schwaben als andernorts in Berlin. Dafür gibt es andernorts keine „Schwaben raus“-Graffitis an Fensterfronten und Häuserfassaden. Die passen so überhaupt nicht hierher, nicht in diese liberale Luft und erst recht nicht in diese, das Anders-Sein atmende Atmosphäre, die der Kollwitzplatz immer noch besitzt.
Es ist so eine Sache mit den Klischees und der Reali­tät: Um die Ecke vom Kollwitzplatz gab es mal dieses klitzekleine Pup­pen­theater. Vorne Kneipe, hinten Bühne. Da spielte und erzählte einer verschmitzte Lebensgeschichten mit selbst geschnitzten Puppen. Erzählte mit Lust und Humor von den uralten Träumen – von Liebe und Reichtum, vom Leben an sich und seinen lächerlichen Tücken. Mit Puppen, naiv und weise gleichermaßen. Vor ihm saßen die Kinder vom Kollwitzplatz mit ihren Eltern und schauten zu. In der Kneipe saßen die, die in den 80er Jahren von einer freien Welt geträumt hatten.
Dann musste er raus, weil er die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Dann wollte er raus, weil er die Großstadt nicht mehr ertragen konnte. Zog aufs Land, in die Idylle. Erfüllte sich in der Uckermark den Traum vom romantischen Häuschen für sich und seine Pup­pen.
Jetzt spielt er nicht mehr so oft. Öfter sitzt er in seinem Häuschen und trinkt. Seine Träume, so scheint es, sind alle erzählt.
Katharina Fial (Nov 2013)