100 JAHRE ZOAR-GEMEINDE

Glaube ohne Kirchensteuer

Einen Jubiliar gilt es in diesem Monat zu feiern: Die baptistische ZOAR-Gemeinde in der Cantianstraße begeht ihr 100jähriges Bestehen. Mit den Gläubigen und ihrer Freikirche ist auch ein Jahrhundert Prenzlauer Berg zu erzählen. Rückblicke und Ausblicke im Gespräch mit Pfarrer Andreas Güthling.

Zeitung Prenzlauer Berg Magazin
Ein Bild aus früheren Tagen: Die Vorgänger-Kapelle der Gemeinde.

Die Mitteilung kommt mitten im Ersten Weltkrieg, zu Pfingsten 1916: „Die Zoargemeinde zu Berlin, Schönhauser Allee 134, ist die neueste Gründung in der Reichshauptstadt.“ vermeldet das Blatt „Der Wahrheitszeuge“ vor 100 Jahren. Räume in der heutigen Cantianstraße 9 hatten schon länger für Gottesdienste und Sonntagsschule gedient. Nun also gründen vor allem aus dem Osten zugereiste Berlinerinnen und Berliner ihre freikirchliche Gemeinschaft. 142 Menschen sind es. „Zum Glück hat die Gemeinde ein schöngelegenes geschenktes Grundstück und ein kleines Kapital für ein Versammlungshaus, das, so Gott will, nach Beendigung des Krieges erbaut werden soll.“, vermeldet die Zeitung damals weiter.

100 Jahre später, im Jahr 2016 gehören der evangelischen „Zoar“-Gemeinde 175 Menschen an; dazu 150 Freunde. Die Freikirche unterhält die Gebäude Cantianstraße 7-9, mit Kirche, Gemeinderäumen und Räumen für den sozialpychiatrischen Dienst, der geistig und körperlich behinderte Menschen beherbergt und betreut. Hier spielen Kinder, treffen sich Frauen, treiben alle Generationen Sport oder singen, leben ihren Glauben. Pfarrer Andreas Güthling steht den evangelischen Baptisten seit 2013 vor.

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Feiert 100jähriges Jubiläum: Die Zoar-Gemeinde in der Cantianstraße. Foto: al

Herr Güthling, was unterscheidet die baptistische Zoar-Gemeinde von anderen?

Das Persönliche, das Individuelle ist uns wichtig. Dass die Person wahrgenommen wird. Deswegen taufen wir auch keine Säuglinge, wir taufen erst im entscheidungsfähigen Alter. Wir gehen davon aus, dass der einzelne Mensch seine eigene Entscheidung für Gott trifft. 

Ein weiterer Unterschied: Wir finanzieren uns komplett über unsere Gemeindemitglieder.Wir haben keine Einnahmen aus Kirchensteuern. Wir sind der Ansicht, dass Staat und Kirche getrennt sein sollten.

 

Rückblick: 1922 errichtet die Gemeinde eine Kapelle am Standort Cantianstraße. Kinderhort, Gemischter Chor, Nähkurs, Sportvereine – die Aktivitäten der Baptisten werden umfangreicher. Bis zum Zweiten Weltkrieg, der die Gemeinde zunächst in die Spaltung wirft. Einige Gemeindemitglieder sind glühende Nazi-Anhänger; andere wählen den offenen Widerstand. Viele der Vereine werden verboten und arbeiten unter anderen Namen weiter. In den Bombenangriffen wird die Kapelle beschädigt. 

Nach dem Krieg der Neuanfang: Stück für Stück bauen die Überlebenden ihre Kapelle, ihre Orgel und ihr Gemeindeleben wieder auf. 

 

Herr Güthling, was sind heute, 2016, die aktuellen Herausforderungen für die Gemeinde im Kiez?

Dass wir kein Traditionsverein sind, sondern uns unserem Umfeld öffnen. Deshalb sind uns Familien sehr wichtig. Es gibt zum Beispiel seit einigen Jahren unseren Winterspielplatz, der auch für Nicht-Gemeindemitglieder offen steht. Der wird so gut angenommen, dass wir über räumliche Erweiterung nachdenken sollten. Alle zwei Jahre veranstalten wir unser Straßenfest, zu dem wir auch unsere ökumenischen Nachbarn einladen. Alle zwei Jahre veranstalten wir eine Familienfreizeit für die ganze Gemeinde. 

Ganz aktuell beschäftigt uns auch die Frage, wie wir Flüchtlinge willkommen heißen können. Wo können wir vor Ort sein, um Flüchtlingen beizustehen? Dazu sind wir vernetzt mit dem ökumenischen Arbeitskreis und mit dem Begegnungscafe der katholischen Gemeinde.

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Leitet die Gemeinde seit 2013: Pfarrer Andreas Güthling. Fotos (2) zoar

Rückblick: Mit Gründung der DDR 1949 dünnt die Gemeinde zunehmend aus. Viele Mitglieder fliehen noch vor dem Mauerbau in den Westen; andere werden durch den Mauerbau von der Kirche abgeschnitten. Wie alle kirchlichen Einrichtungen ist auch die Zoar-Gemeinde ein von der Staatsmacht ungeliebter Hort des Widerstandes. Kinder sind in der Schule Repressalien ausgesetzt; in den Gottesdiensten sitzt die Staatssicherheit. Viele männliche Gemeindemitglieder verweigern den Wehrdienst an der Waffe. Die kleine Truppe hält eng zusammen. „Es wird mir heute noch warm ums Herz, wenn ich an die Fürsorge der Gemeinde denke“, erinnert sich etwa Herr Schulz an diese Zeit. Als Wehrdienstverweigerer waren er und seine kleine Familie auf Sozialhilfe angewiesen, was es in der DDR offiziell gar nicht gab.

Die Gemeinde baut sich trotz allem weiter auf: In Eigenleistung errichten die Menschen einen Anbau an ihre Kapelle und Wohnraum für die Pfarrersfamilie. 

Die revolutionären Monate und Wochen im Herbst 1989 erleben viele Gemeindemitglieder in der  benachbarten Gethsemanekirche. „Die neue Freiheit, die nun über uns gekommen ist, mit ihren vielfältigen Möglichkeiten, will nun erst gelernt sein“, schreibt der damalige Pfarrer Siegfried Reichelt. Die Ost-Berliner suchen sich Partner in Hamburg. Und bauen wieder. 1998 wird das Zentrum in seiner jetzigen Gestalt eröffnet: Eine neue Kapelle samt Gemeinderäumen und Räumen für das Sozialdiakonische Werk. Die Entscheidung fällt, hier 50 geistig und körperlich behinderte Menschen zu betreuen.

 

Der Kiez um ihre Gemeinde hat sich seit dem Neubau des Zentrums in den vergangenen Jahren stark verändert. Was bedeutet das für Ihre Gemeinde?

Von unseren angestammten Familien wohnen etwa noch zehn Prozent im unmittelbaren Umfeld. Die anderen sind an den Stadtrand gezogen. Das heißt, vieles an Gemeindearbeit konzentriert sich auf den Sonntag. Wir profitieren nicht so stark vom Zuzug wie größere Gemeinden, doch unsere Gemeinde wächst. Die neuen Gemeindemitglieder bringen auch Wandel mit. Wie bringen sie sich ein, wie verändert sich unser Gesicht? Das wird sich in einigen Jahren zeigen. 

-al-, April 2016

 100jähriges Jubiläum der Evangelisch-freikirchlichen ZOAR-Gemeinde, Festprogramm vom 13.- bis 15. Mai, Cantianstraße 9. www.efg-zoar.de