NACHT DER SOLIDARITÄT

Wie viele Obdachlose leben in Berlin?

In Berlin leben unzählige Menschen auf der Straße. Doch wie viele? Weil exakte Daten und Zahlen fehlen, startet das Land Ende Januar eine „Nacht der Solidarität“. Obdachlose Menschen sollen statistisch erfasst und befragt werden – als Grundlage besserer Hilfsangebote.

In einer stillgelegten Sparkassenfiliale im südlichen Prenzlauer Berg wohnt zeitweise eine Frau. Sie ist ziemlich dünn, ziemlich verhärmt. Sie spielt Deutschlandradio Kultur und hält allen, die herein- und herauswollen, die Tür auf. Manchmal bekommt sie dafür Geld, manchmal nicht. Wenn die Filiale nachts schließt, ist die Frau verschwunden. Am nächsten Tag ist sie wieder da. Nahezu jeden Tag im Herbst und Winter.

Ist die Frau obdachlos? Ist sie wohnungslos? Das Amtssprech macht beim Nichthaben von Obdach und Wohnraum einen Unterschied. Zwischen 2.000 bis 20.000 Menschen leben auf der Straße, so Schätzungen über Obdachlosigkeit. Rund 40.000 Menschen sind ohne festen Wohnsitz, also wohnungslos. Weil es keine verlässlichen Daten gibt, startet Ende Januar die erste Zählung von obdachlosen Menschen in Berlin. Die „Nacht der Solidarität“ nennt das Land Berlin die rund dreistündige Aktion vom 29. auf den 30. Januar. Im ganzen Stadtgebiet werden dann obdachlose Menschen gezählt, zu ihrer Identität und ihrem Status befragt. Antworten und Auskünfte sind freiwillig, durchgeführt werden die Befragungen von freiwilligen Teams. Was zunächst befremdlich klingen mag, hat einen ernsten Hintergrund. Der Senat will das gesammelte Datenmaterial zur Grundlage besserer Hilfsangebote für obdachlose Menschen nehmen. Diese werden in Notunterkünften und Tagestreffs über die bevorstehende Befragung informiert.

Obdachlose Berlin Zählung
Erstmals werden in Berlin Obdachlose statistisch erfasst. Grafik: Senat

Wie lässt sich die Situation der Menschen auf der Straße verändern, verbessern? Der Berliner Senat hat im September 2019 entsprechende „Leitlinien der Wohnungslosenhilfe und Wohnungslosenpolitik“ beschlossen. Das Angebot an geeigneten Räumen soll vergrößert werden, die Unterbringung wohnungsloser Menschen besser gesteuert werden – und das „Verwaltungshandeln vereinheitlicht werden“, wie es die zuständige Senatorin Elke Breitenbach nennt: „Denn niemand soll auf der Straße leben müssen!“

Für die Zählung in der „Nacht der Solidarität“ werden bis zu 500 Teams gebildet. Diese Teams bestehen aus drei bis fünf Freiwilligen, die einen festgelegten Bereich ablaufen. Die dort angetroffenen obdachlosen Menschen werden zu Geschlecht, Alter, Nationalität und Familienstand kurz befragt und statistisch erfasst. Rund 3.700 Freiwillige haben sich bislang für die Aktion gemeldet. Ihre gesammelten Daten bilden die Grundlage einer Statistik, die künftig jährlich mit ähnlichen Zählaktionen aktualisiert werden soll. Forschende von Berliner Universitäten begleiten die Aktion. Solidarisch wird die Nacht durch zahlreiche Veranstaltungen zu den Themen Obdach- und Wohnungslosigkeit im gesamten Stadtgebiet.

Im Bezirk Pankow läuft beispielsweise die Ausstellung „Kein Raum“, über die Nacht hinaus. „Begegnungen mit Menschen ohne Obdach“ lautet der Untertitel der Foto-Schau. Zu sehen sind Porträts der Fotografin Debora Ruppert. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen obdachlose Menschen auf den Straßen Berlins. Ruppert sucht die Begegnung mit ihnen, lauscht ihren Geschichten und bringt ihnen anschließend ihr entwickeltes Porträt als Geschenk vorbei. In ihrer fotografischen Arbeit begibt sie sich auf Spurensuche. Wo leben Menschen, wenn sie keinen Raum in der Gesellschaft haben? Sie sucht sie an verborgenen Orten im urbanen Raum auf – unter Brücken, versteckt hinter Büschen in Parks, unter Treppenaufgängen und in Zeltstädten. Zu sehen ist die Ausstellung bis zum 28. Februar im Rathaus Pankow.

-red-, Jan. 2020

Mehr zur „Nacht der Solidarität“: www.berlin.de/nacht-der-solidaritaet