„Wie kahl und jämmerlich würde manches Stück Erde aussehen, wenn kein Unkraut darauf wüchse!“ (Wilhelm Raabe)

Es ist eigentlich eine böse Zeit! Das Leben ist teuer geworden in der Welt. Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil. Auf der Ferne liegen blutig dunkel die Donnerwolken des Krieges, und über die Nähe haben Krankheit, Hunger und Not ihren unheimlichem Schleier gelegt; es ist eine böse Zeit! Dazu ist' s Herbst, trauriger, melancholischer  Herbst und ein feiner, kalter Vorwinterregen rieselt schon wochenlang herab auf die große Stadt; – es ist eine böse Zeit! Die Menschen haben lange Gesichter und schwere Herzen, und wenn sich zwei Bekannte begegnen, zucken sie die Achseln und eilen fast ohne Gruß aneinander vorbei; es ist eine böse Zeit!“... so beginnt die „Chro­nik der Sperlings­gas­se“, eine bilder­­reiche Erzäh­lung des Schrift­stellers, Zeich­ner und Ma­lers Wilhelm Raabe (1831 - 1910).

Er erinnert sich später an diese Zeit: „Ostern 1854 ging ich ... nach Berlin, um mir auch „auf Universitäten“ noch etwas mehr Ordnung in der Welt Dinge ... zu bringen.“ Am 15. November 1854, am „Federansetzungstag“ beginnt er – in der Spreegasse – die „Chronik der Sperlingsgasse“ zu schreiben. „Gegen Ende September 1856 erblickte das Buch durch den Druck  das Tageslicht und hilft mir heute noch ... im Erdenhaushalt am meisten mit zum Leben.“

Fast gleichzeitig studiert  Raabe – ohne Abitur! – an der Friedrich-Wilhelm-Uni­versität zu Berlin (heute: Humboldt-Universität) Philologie und Geschichte und  wird freier und gern gelesener Schrift­steller. Zeit seines Lebens verfasste er 70 Romane, Erzählungen und No­vel­len, einige Gedichte sowie  über 550 Aquarelle und Zeichnungen.

Noch zu Lebzeiten des Künstlers wird die „Straße Nr. 30 A, Abt. XII“ zwischen der Prenzlauer Allee und der Winsstraße nach ihm benannt – die kürzeste Straße im Viertel misst gerade mal 194,50 Me­ter! Einzig der kleine anheimelnde Spiel­platz – von der Nachbarschaft erkämpft –  bringt zeigt Idylle und Ab­wechs­lung in die enge Wohnbebauung. Raabe hat poetisch und entschieden, realistisch und ironisch die Gesellschaft seiner Zeit beschrieben. Er seziert Spieß­bürgertum und kleinbürgerliches Denken und zeichnet literarische Bilder von kauzigen und „auffälligen“ Mit­men­schen in ihrem ganz normalen Alltags­wahn­sinn.

Apropos Raben und Sperlingsgasse! Im Winskiez sind vielschnabelige  Vogelfa­mi­lien ansässig, die das Wohlleben der gutherzigen Nachbarn nutzen. Die vielen klugen, selbst organisierten und rastlos umtriebigen  Menschen müssen wohl oft – meist unvermittelt und kurzfristig – ihren reich gedeckten Früh­stückstisch auf dem sonnigen Balkon verlassen, um mit  der Lektüre ihrer 196 Mails zentrale  Projekte anzuschieben, den Fortgang der Wirtschaft zu sichern  oder gar die ganze Welt zu retten. 

Dafür werden Brot, Wurst, Käse, Schinken, grüne und andere Körner un- beaufsichtigt  allein gelassen ... darauf hat  Familie  Raben­vogel schon seit Son­nen­aufgang gewartet – einen reich gedeckten Tisch wie ihn der Evangelist Matt­häus überliefert: „Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch ...“ (Matt. 6.26)! Über das krähenfamilieneigene Netz wird blitzschnell die gesamte Sippschaft informiert und dann dauert es nur einen Moment, bis sich alle vor Ort einfinden – zur arbeitsmäßigen Ent­lastung der Balkoneigentümer. Alles wird leer geräumt, was beweglich und schmack­­haft ist ...

Eine Reihe von Lesern hat sich sehr gefreut über die Aufklärung der Herkunft der Straßennamen im Winskiez. Es gab mal Zeiten, da trugen die Straßen­schil­der wiederum kleine Schilder mit  kurzen Erklärungen; dies ist wohl der Ge­schichts­­losig­keit und dem  Kürzungs­wahn zum Opfer gefallen ...!

Gut, dann liefern eben wir: Christian Heinrich Roller (1839 - 1916) war ein Multitalent – Schriftsteller, Volksdichter, aktiver Freireligiöser und Sozial­demo­krat. Während seiner Ausbildung zum Tischler und Zeichenlehrer erlernte er im „Berliner Handwerkerverein“ eine Kurz­schrift. Er verbesserte sie und wurde DER  Begründer eines Stenografiesystems. 

Ende des 17. Jahrhunderts bemühte sich Daniel Ernst Jablonski (1660 - 1741) in Brandenburg darum, reformierte und lutherische Christen zusammenzubringen als „Evangelische“. Zuvor war der Theo­loge Hofprediger in Königsberg und am Berliner Dom und ab 1735 Präsident der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Die Einführung des gregorianischen Kalen­ders in Preußen und die Einrich­tung der Berliner Sternwarte gingen auf seine Anregung zurück.

Die Kreisstadt Marienburg – heute Mal­bork – unweit von Danzig ist bekannt durch den Deutschen Ritterorden, der Ende des 13. Jahrhundert mit dem Bau seiner Ordensburg begann und dort bis 1457 seinen Sitz hatte. Heute hat Malbork knapp 40.000 Einwohner.

Die Stadt Christburg – heute Dzierzgon – hat rd. 6000 Einwohner und liegt in der Woiwodschaft Pomorski (Pommern)/ Kreis Malbork südöstlich von Gdansk (Danzig). 1248 errichtete der Deutsche Ritterorden eine Burg auf dem Berg Grewose; Stadt und Burg wechselten im Laufe der Geschichte oftmals ihre Herr­scher.

Das Jahr neigt sich dem Ende zu. So bleiben für den Chronisten und Zeit­zeugen in den  kommenden Monaten über „Menschen und Kneipen im Wins­kiez“ die Danziger Straße und die Prenz­lauer Allee übrig. Und er hält es dabei mit Wilhelm Raabe:

„Es ist eigentlich eine böse Zeit.“, aber:

„Auch wenn man nur zum Fenster rausschaut, sieht man die Welt.“

 

Christian Robbe (Okt 2011)

 

Zitate von Wilhelm Raabe:

a) Die Chronik der Sperlingsgasse, Aufbau - Verlag - Berlin und Weimar, 1. Auflage 1980

b) www. aphorismen.de

Bilder:

Wilhelm Raabe, Gemälde von W. Immenkamp, 1911

Wilhelm Raabe: Bauernkaten in einer Heidelandschaft

Zeichnung: Rabe - gezeichnet von Frank Wempe  / Quelle: www.portraitiere.de

Foto: Arbeiten für den „Park der Stille“ 

an der Heinrich- Roller-Straße, (c) Christian Robbe