FIRMENGESCHICHTE PRENZLAUER BERG (1)

Die Wirtschaftsvereinigung Obst-Gemüse-Speisekartoffeln Berlin (WV OGS)

Die WV OGS war vom 1. September 1978 bis 15. Juli 1980 mein Ausbildungsbetrieb zum „Wirtschaftskaufmann“ und bis zum 30.06.1981 mein erster Arbeitgeber.

In dieser neuen, vom Ende her offenen Reihe von mir, die jetzt regelmäßig erscheint, kümmere ich mich um große Firmen, die dereinst hier am Prenzlauer Berg existierten oder bestehen. Es wird Folgen geben über den Schlachthof und das Gaswerk, die genauso aus der Kaiserzeit sind, wie die vielen italienischen Drehorgelbauer, es wird Folgen geben über Firmen wie den ehemaligen Markisen- und Jalousienhändler Castorf aus den 20er- und 30er-Jahren, dann werde ich mich mit den großen Arbeitgebern befassen, die sich hier nach dem Krieg angesiedelt haben.

Ich möchte diese neue Reihe mit etwas Unspektakulärem beginnen, mit dem aber vor 30 Jahren fast jeder Berliner, in der ganzen Stadt, zu tun hatte. Komischerweise findet man im Netz nichts über meinen ehemaligen Ausbildungsbetrieb und so musste ich meine Facharbeiterabschlussarbeit zurate ziehen.

Storkower Prenzlauer Berg
Lagerhallen für Gemüse in der Storkower Str.

Die WV OGS wurde als Konglomerat aus mehreren Einzelfirmen auf Beschluss des Magistrats von Groß-Berlin 1971 gegründet.

Es gab für die Firma keinen großen Einzelstandort, sondern viele verschiedene Buden, die zusammengefasst worden waren. Die WV war ein merkwürdiges Konstrukt, denn sie war einerseits ein staatlicher, volkseigener Betrieb, andererseits aber auch eine GmbH an dessen Produktionsbetrieben oft die Konsumgenossenschaft Berlin beteiligt war. Es gehörten aber auch Kommanditgesellschaften dazu, die zu einem gewissen Minderheiten-Anteil sogar noch privatwirtschaftliche Züge aufwiesen. Primär war die Aufgabe der Firma, die Bürger der Hauptstadt mit Obst und Gemüse zu versorgen, sekundär war die Produktion. Die Berufsschule, die man sich mit anderen Großhandelsbetrieben und mit dem Einzelhandel teilte, war der hintere Flügel der heutigen Kurt-Schwitters-Schule in der Greifswalder Straße. Die Firmenzentrale lag auf der Ecke Jacobsohnstraße / Charlottenburger Straße an der Weißenseer Spitze. Die komplette Buchhaltung war in der Chausseestraße Höhe Zinnowitzer Straße in Mitte. Zur OGS gehörten weiterhin eine Schokoladenfabrik in der Gustav-Adolf-Straße / Bühringstraße in Weißensee, eine Sauerkrautbude an der Rothenbachstraße in Heinersdorf, die Vineta-Konserven (vorwiegend Marmeladenproduktion, aber auch saure Gurken) in der Josef-Orlopp-Straße und die Bananenreife in der Buchberger Straße (beide Lichtenberg), Kartoffellager in Alt-Blankenburg und Müncheberg (bei Berlin) und die Handelsbetriebe (HB). HB III war in der Neumannstraße in Pankow, zuständig für Großabnehmer (Kantinen, Großküchen) und Backzutaten (Mandeln, Rosinen), der HB I in der Karlshorster verlängerten Waldowallee zuständig für den Einzelhandel in Treptow, Köpenick und Lichtenberg (wozu damals Marzahn und Hellersdorf gehörten), der HB II in der Storkower Straße zuständig für den Einzelhandel in den restlichen Stadtbezirken Berlins und dann gab es noch den HB-Konserven auf dem ehemaligen Schlachthof, der ja zum Prenzlauer Berg gehört, in der Eldenaer Straße. Zwischen Juli und Oktober gab es überdies ein Büro auf dem Wriezener Güterbahnhof (am Ostbahnhof). Nahm der Fruchthof in der Beusselstraße in Moabit (und hier nun der Bezug zu ganz Berlin) im Sommer ab Freitagmittag keine Melonen, Pfirsiche, Weintrauben, Pflaumen und Aprikosen mehr ab, wurden diese Güterzüge zum Wriezener Bahnhof umgeleitet. So kam es, dass diese Waren in Ostberlin meist nur über Sonderverkäufe an den Wochenenden vertrieben wurden. Dabei gab es eine Rangordnung, nach der diese Waren vom Großhandel aus zuzuteilen waren (das galt im übrigen für das gesamte Sortiment). Zuerst wurden Betriebsverkaufsstellen und Kantinen beliefert, danach die staatlichen HO-Kaufhallen, dann die genossenschaftlichen Konsumkaufhallen, die kleinen HO-Geschäfte, die kleinen Konsum-Gemüseläden, die HO-Kommissionshändler und ganz am Ende standen die wenigen privaten Läden. Allerdings lief da auch vieles über Bestechung durch den einen oder anderen kleinen Ladeninhaber, wodurch auch die kleinen Krauter dann letztendlich doch ganz gut beliefert wurden.

Zudem gab es ein vom Magistrat wöchentlich neu vorgeschriebenes sogenanntes A- oder Pflichtsortiment, das zum einen der Großhandel zu liefern, dass aber auch die Verkaufsstellen zu führen hatten (Kuba-Orangen, Kohl, Äpfel), … und das wurde durch staatliche Stellen kontrolliert! Daneben gab es das „B-Sortiment“, dass der Großhandel liefern konnte, sofern die Waren verfügbar waren und das nach dem genannten Schlüssel aufgeteilt wurde. Jede Woche erschienen dafür offen in den Läden ausliegende Preislisten, in denen diese Sortimente mit den Preisangaben zu den einzelnen Waren nachzulesen waren.

Die WV OGS hatte indes keine eigenen Lkw. Diese Lkw wurden mit Fahrer beim Dienstleister „Handelstransport“ in der Siegfriedstraße in Lichtenberg bestellt und bekamen ab Lager einen Beifahrer der WV OGS mit.

Eine gesonderte Anlieferung erfolgte mit Erdbeeren und Kirschen aus Werder. Da luden die Lkw direkt am Feld, fuhren zu ihrem zuständigen Handelsbetrieb und bekamen dort ihren Beifahrer mit und fuhren anschließend direkt weiter. Genauso verhielt es sich mit ganzen Lkw-Zügen voller Werder-Äpfel im Herbst oder voller Blumenkohl aus dem Oderbruch, wenn diese Ladungen komplett an eine „Kaufhalle“ gingen.

Insgesamt arbeiteten bei der WV OGS allein in Prenzlauer Berg ca. 350 Mitarbeiter in vier Schichten. Die Verwaltung des Konservenlagers beispielsweise war über viele Jahre hinweg in provisorischen Ziehharmonika-Baracken untergebracht, wobei deren Innenleben damals hochmodern mit Lochstreifencomputern ausgestattet war. Da saßen viele Frauen sehr unbequem in mehreren abgedunkelten Räumen, in denen ein ohrenbetäubender Lärm herrschte. Von dem HB-Konserven ist nichts mehr übrig geblieben. Die Lagerhallen des HB II werden, nach vielen Jahren des Umbaus, auch heute noch genutzt. Dort befindet sich die große Kauflandfiliale zwischen der Straße am Weinberg und der Storkower Straße.

Rolf Gänsrich, August 2016