THÄLMANN-DENKMAL

Findling aus einer anderen Welt

Mit ihrem Konzept, das Thälmann-Denkmal in Kurzfilmen zu kommentieren und das Areal zum Verweil- und Denkort zu machen, gewann Betina Kuntzsch den Wettbewerb zur Neugestaltung. Jetzt wird die Installation an der Greifswalder Straße öffentlich eingeweiht.

Einer der eindrücklichsten Kurzfilme ist jener, in dem Irma Thälmann von den Briefen erzählt, die sie ihrem Vater, dem Kommunisten Ernst Thälmann, ins Gefängnis schreiben musste. Ein Kind, das politische Grüße schickte – und politische Botschaften unter Lebensgefahr aus dem Gefängnis schmuggelte. Irma Thälmann erzählt von der Eifersucht auf den Jungen in Berlin, bei dessen Mutter Thälmann lebte. Sie selbst und ihre Mutter bekamen in Hamburg den Vater nur während kurzer Stipp-Visiten zu sehen.  „Seine große Familie war die Partei“.

„Beruf Thälmann-Tochter“ – so fasst Irma Thälmann ihre Rolle in der DDR zusammen. „Mein Vater wurde zum Vorbild für ein ganzes Land“. Und sie, das einzige Kind, führt in diesem Land, das sich den besseren deutschen Staat wähnte, sein kommunistisches Vermächtnis fort. 

Wie dieser Film, wie die anderen neun Kurzfilme wohl auf die PassantInnen und BesucherInnen des Thälmann-Denkmals wirken werden? Betina Kuntzsch hat diesen Film aus Erinnerungen Irma Thälmanns, Zeitzeugen-Berichten, historischen Bildern und Zeichnungen zu einem fiktiven Monolog collagiert. Er macht diese DDR, macht dieses Vorbild Ernst Thälmann aus der künstlerischen Distanz neu erlebbar.

#prenzlauerberg
Das Thälmann-Denkmal im Heute verorten: Filmplakat zur Installation von Betina Kuntzsch.
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Schuf die Neugestaltung um das Thälmann-Denkmal: Betina Kuntzsch. Fotos (2): BK/KF

ZITAT AUS BETON UND FILMEN

Kopf. Faust. Fahne. Das sind die wesentlichen Elemente des Denkmals, das mit seinen 50 Tonnen Bronze so monströs wie umstritten den Eingang zum Thälmannpark bewacht. „Kopf. Faust. Fahne.“ ist der Titel der zehn Kurzfilme, die ganz unterschiedliche Perspektiven auf das Denkmal bilden. Mit diesen zehn Filmen, mit der Idee, diese am Thälmann-Denkmal erlebbar zu machen, gewann Betina Kuntzsch im vergangenen Jahr den gestalterischen Wettbewerb des Bezirksamts Pankow. Die Filme sind ein Element ihres Entwurfs. Weitere Elemente sind farbige Betonelemente, die den Platz zieren. Sie laden zum Sitzen, Klettern, Verweilen ein. Sie zitieren den Sockel Thälmanns, auf dem noch der Schriftzug „Rot Front“ steht. Sie selbst tragen unterschiedliche poetische Schriftzüge. 

„Vom Sockel denken“ – diese Installation aus Sitzblöcken und Filmen wird nun, am 18. November, offiziell eingeweiht. Es ist die Idee, diesen bronzenen Koloss Thälmann, die Ästhetik der DDR-Propaganda in die heutige Zeit zu holen. Seit 2014 stehen das Denkmal wie der angrenzende Thälmannpark mit seinen Plattenbauten unter Denkmalschutz. Sein geplanter Abriss scheiterte in den 90er Jahren am mangelnden Geld. 

Schon länger ist das Ensemble wegen seiner politischen Hintergründe umstritten. Umstritten waren der Abriss des alten Gaswerkes und der Neubau der sozialistischen Vorzeige-Siedlung an seiner Stelle bereits seit Mitte der 80er Jahre. Die offizielle Propaganda bei der Einweihung des Denkmals 1986 zeigt ein weiterer Kurzfilm: Fahnenschwenkende Menschenmassen auf der Greifswalder Straße, die für diesen Anlass schul- bzw. arbeitsfrei bekamen. Fahnenschwenkende Menschen auch auf den Balkonen der Plattenbauten. Und Irma Thälmann neben Staatschef Erich Honecker als Ehrengast. Ein Gesicht unter den Tausenden: Betina Kuntzsch, als Kind bei der Einweihung dabei.

LEBEN MIT SCHWARZEN FLOCKEN

Die persönlichen Momente machen die Stärke dieser Kurzfilme aus. So erzählt ein junges Mädchen von Kindheit und Jugend im Schatten des Gaswerkes in den 60er und 70er Jahren. Es ist ein Leben mit den schwarzen Flocken, die zu jeder Jahreszeit von den riesigen Schornsteinen herüberschneien. Im Winter mischen sich diese Flocken mit dem weißen Schnee. Die Fensterbretter der Hinterhofwohnung sind nahezu täglich schwarz. In einem weiteren Film berichten BewohnerInnen der Plattenbauten, wie sie seit 1984 das Areal zu ihrem Wohngebiet machten – gemeinsames Bäumepflanzen inklusive.

1872 wird das Gaswerk eingeweiht, damals noch außerhalb der Stadtgrenzen Berlins, auf ehemaligen Mühlen-Standorten. Betina Kuntzsch mischt für diesen Kurzfilm historische Aufnahmen mit Plänen und Zeichnungen der Anlage. Gas als wichtigste Energie bedeutet für die wachsende Großstadt Licht und  Wärme, Straßenlaternen und Leuchtreklame, Kühlschränke und Bügeleisen. Im zweiten Weltkrieg zerstört, wird das Gaswerk nach Kriegsende wieder aufgebaut. Als „modernstes Werk der jungen Republik“ versorgt es Industrie und Haushalte bis 1981 mit Energie. Kommentar der Off-Stimme: „Trotz technischer Innovationen bleibt es eine Dreckschleuder“.

Und Thälmann und sein Vermächtnis? Ein weiterer Film blickt auf die Thälmann-Pioniere, die staatliche Kinderorganisation der DDR. Er erinnert an ihr Gelöbnis, dem Frieden und dem Sozialismus in der ganzen Welt zu dienen, zeigt ihre roten Halstücher, die sie – als Zitat der Arbeiterfahne – zu offiziellen Anlässen trugen. Ein weiterer Film schließlich dokumentiert, wie Kopf, Faust und Fahne des Thälmann-Denkmals entstehen. Jetzt also verortet die Installation von Betina Kuntzsch den Koloss neu – als „Findling aus einer anderen Welt“.

-al-, Nov. 2021

„Vom Sockel denken“ - Feierliche Übergabe am 18. November, 14 Uhr, am Ernst-Thälmann-Denkmal. Die zehn Kurzfilme Betina Kuntzschs (Koberstein-Filmproduktion) liefen zum diesjährigen Dok-Film-Festival in Leipzig. Berlin-Premiere beim interfilm-Festival am 18. November, 18 Uhr im Kino im Zeiss-Großplanetarium.