Im Verborgenen die Muße

Nachrichten Prenzlauer Berg Magazin
Schön bunt und schön kreativ: Die Popelbühne für Kinder am Helmholtzplatz.

Die soziale Bedeutung von Plätzen ist unbestritten. Sie sind, gerade in den Kiezen des Prenzlauer Berges, grüne Orte der Begegnung und Inseln, die zum Verweilen laden. Der Helmholtzplatz ist einer der bekanntesten Plätze in diesem Ensemble. Auf der Suche nach der Muße an diesem Ort.

Der Helmholtzplatz an einem Dienstag im September. Früher war er mal ein Schmuddelplatz, dann ein Platz sozialer Grabenkämpfe, dann per Dekret ein Platz für alle: Für die Bewohner und ihre Gäste, für die Kinder, die Obdachlosen und die Trinker. Für die Touristen.
Wie friedlich ist so ein Platz an einem Spätsommernachmittag, an dem die Luft noch einmal unglaublich warm flirrt und sich mit der Großstadt vermischt? Der Herbst steht schon in den Startlöchern, doch der Sommer will noch nicht weichen. Wer hat, an diesem außergewöhnlich-gewöhnlichen Tag Zeit, ihn zu genießen? Sich auf dem Platz zu versammeln, niederzulassen, zu sinnieren und zu träumen? Das zu tun, was Arbeitsexperten und Psychologen uns für die Work-Life-Balance empfehlen, nämlich: Nichts?

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Irgendwie doch ästhetisch: Gläser-Ensemble in der Schliemannstraße. Fotos (3): al

Aus dem Nichts, als Orte der Muße, schaffen Plätze ihre Daseinsberechtigung. Aus der Muße schaffen Dichter von alters her ihre Werke, Sänger ihre Lieder. Sie nehmen Platz und lauschen den anderen, sie schauen in den Himmel und träumen dabei, entrückt der Welt und sie dennoch aufsaugend wie ein Schwamm. „Man hört, wie jemand etwas auf der Straße sagt. Es mag ein völlig seltsamer Spruch sein, aber man spürt, hey, da ist irgendwo ein Song versteckt.“ hat Rolling-Stones-Gitarrist Keith Richards jüngst in einem Interview erzählt, wie bei ihm die Songs geboren werden. Ausgerechnet der steinalte Rock-Rebell.
„Vielleicht sind es Marmeladen-Ninjas“, sagt ein Junge, den sein Vater auf dem Fahrrad nach Hause schiebt. „Marmeladen-Ninjas?“ fragt der Vater im Weitereilen. Was könnte daraus für ein Song werden? Doch keiner da, der diesen kleinen Dialog auffangen und verdichten könnte. Sie eilen alle vorbei. Keine Dichter da und auch keine, die zur Work-Life-Balance aufgelegt sind, zumindest nicht am Helmholtzplatz. Nur ein paar Schauspieler im Cafe an der Ecke, völlig vertieft ins Gespräch miteinander.
Zeit haben die Trinker und Obdachlosen, möglicherweise mehr als ihnen lieb ist. Die hier immer sitzen, weil sie nichts anderes haben: kein Sofa und auch keine Wohnung, in der es stehen könnte, und in die hasten könnten.
Zeit haben die Kinder auf dem Spielplatz, denen glücklicherweise das Gefühl für den Takt der Erwachsenen noch nicht eintrainiert ist. Den dabei stehenden Müttern, und es sind tatsächlich vorrangig Mütter, ihnen hingegen sind Ungeduld und anstehendes Arbeitspensum anzusehen. Der große Rest: Hat es eilig. Täuscht es, oder wird jemand, der da einfach nur sitzt und sitzt und schaut, seinerseits schief angesehen?
Der Helmholtz-Kiez ist der am dichtesten besiedelste, der jüngste und wohlsituierteste in Prenzlauer Berg. Durchschnittsalter der Bevölkerung 38 Jahre, überdurchschnittlich hoher Bildungsgrad, überdurchschnittlich hohes Einkommen, überdurchschnittlich viele Kinder.

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Schönes aus Holz: Firmenschild in der Schliemannstraße. Fotos (3): al

Ein Kiez der Fleißigen, in jeder Hinsicht? Schließen Fleiß und Zeit-Haben einander aus?
„Dinge, die die Welt nicht braucht“. Nur ein paar Schritte vom Helmholtzplatz und seiner Eile entfernt, die Schliemannstraße hinauf Richtung Stargarder. Das Schild des alten Holzschnitzer-Ladens neben einem riesigen hölzernen Hahnenkopf an der Fassade. Ein kleines, selbstbewusstes Etikett für die schönen Dinge aus Holz, die die Welt so wenig braucht wie die Muße, wenn sie denn auf Lebensqualität und Poesie verzichten will.
Auf dieses kleine, nördliche Stück Schliemannstraße hat sich die Muße verkrochen. Hier hat sie Platz zwischen all den efeuberankten Fassaden, dem zeitlosen Kunsthandwerk und kleinen Läden. Was für ein Luxus, was für ein Fund. Hinter einem Graffiti-Zaun stehen tatsächlich noch Garagen. Garagen, wo gibt’s die denn sonst noch oberirdisch in Prenzlauer Berg? Die Flächen davor modern vor sich hin. Vor einer heruntergelassenen Jalousie stehen leere Gläser, wie ein Gemälde arrangiert. Schön, einfach. Schön auch die Teller und Tassen aus Ton, im Schaufenster des Keramik-Ateliers. Schön die Secondhand-Klamotten auf der Kleiderstange vor dem Laden.
Schön das kleine Kino mit seinem zeitlosen Style und den Klassikern im Programm. 
Kleine Momente, die sich dehnen. Zeit zum Luftholen.
Dann über die laute Stargarder Straße und die bunte Dunckerstraße zurück auf den Helmholtzplatz. In der „Popelbühne“ toben kleine Theater-Kinder, für das Museum der Herbstlaube, das in die früheren Zeiten von Berlin entführen will, interessiert sich an diesem Tag niemand. Die wilden Äpfel im Korb davor lassen auch alle stehen.
Der Helmholtzplatz, immer noch turbulent, mit mehr Menschen jetzt. Auch diejenigen, die in den Cafes und Restaurants rundum sitzen, scheinen alle zutiefst beschäftigt. Ein Satz fliegt vorbei: „Ist das nicht die Apotheke aus Andreas' Dresens Film Sommer vorm Balkon?“ Ja.
Vom Baum herab segelt ein Spätsommer-Blatt aufs Pflaster. Ganz langsam.
Katharina Fial (Okt 2014)