FRIEDLICHE REVOLUTION 1989

Als das Sprechen begann

Noch einen Monat bis zum großen Jubiläum des Mauerfalls vor 30 Jahren. Das historische Ereignis fand mitten in Prenzlauer Berg statt. Der Grenzübergang an der Bornholmer Straße war der erste, über den Ost und West zusammenfanden. Im Oktober hatten die Menschen, die sich zu Demonstrationen auf die Straße wagten, eher ein anderes Land DDR als ein wiedervereinigtes Deutschland im Sinn. Erinnerungen.

Der Oktober vor 30 Jahren ist der Monat, in dem das kleine Land DDR sich in einer Zerreißprobe befindet. Es ist der Monat, in dem sich entscheidet, welchen Weg dieses Land künftig gehen wird: Den in eine weitere, auch gewaltsame Diktatur oder den in ein Land der Freiheit? Unüberhörbar und unübersehbar sind die Demonstrationen in Leipzig und andernorts, die sich immer stärker füllenden Kirchen mit Friedens- und Mahngebeten. Die Menschen, die nicht die Flucht aus dem engen Staat über die osteuropäischen Botschaften suchen, erheben im Land selbst ihre Stimme. In Prenzlauer Berg vor allem in und um die Gethsemanekirche, in der Umweltbibliothek und auch in der Zionskirche. Und kein Mensch ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass Deutschland genau ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, die oft historisch genannte Wiedervereinigung vollzieht. Und auch dann wird niemand ahnen, dass das Zusammenwachsen dessen, was zusammengehört, die beiden Teile Deutschlands, auch nach drei Jahrzehnten noch nicht vollzogen ist.

Friedliche Revolution 1989 Berlin Prenzlauer Berg
An der Gethsemanekirche, dem wesentlichen Ort der friedlichen Revolution in Prenzlauer Berg, prangten vor 30 Jahren Transparente mit dem Schriftzug „Wachet und betet“. Heute gemahnt die Gemeinde weiter an Toleranz und Rechtsfreiheit – in der ganzen Welt.

DIE, DIE FLÜCHTETEN

Ein Teil der Menschen bleibt im Land, ein großer Teil geht weg. In den letzten September-Tagen 1989 verkündet BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher den Menschen in der Prager Botschaft, die dort seit Wochen ausharren, dass sie in den Westen ausreisen dürfen. Christin Haas aus Prenzlauer Berg ist unter diesen Menschen. 20 Jahre alt ist sie damals, darf kein Abitur machen und nicht studieren in der DDR, sieht sich gefangen – und geht nach Prag. Als Jugendliche, als Punk, war sie immer nur angeeckt, fühlte sich gegängelt und gemaßregelt. „Ich konnte nicht mehr atmen“, beschreibt sie 30 Jahre später ihr damaliges Lebensgefühl. Nach ihrer Flucht in der Prager Botschaft, der Ankunft im Aufnahmelager, geht sie so weit wie möglich weg von Berlin, vom Osten – nach Baden-Württemberg. Dort lebt sie heute noch, dort sagt sie heute am Telefon: „Ich kam in eine völlig neue Welt, war auch hier eine Exotin.“ Inzwischen ist sie das, was man bürgerlich nennt, arbeitet in ihrem Wunschberuf, hat zwei erwachsene Kinder. Und ist seitdem nie wieder in ihrer Heimat gewesen. „Ich habe mit diesem Leben abgeschlossen, und Berlin gehört dazu.“

Friedliche Revolution 1989 Berlin Prenzlauer Berg
Einblicke in die Zeiten vor dem heißen Herbst 1989, in das Leben hinter dem DDR-Einheitsgrau: Die Prenzlauer Berger Fotografin Helga Paris hat sie festgehalten. Fotos (2): al

DIE, DIE BLIEBEN

Am 7. Oktober 1989, dem Tag, an dem die DDR-Führung den 40. Jahrestag der Republik feiert und Menschen an den zwangsverordneten Feierlichkeiten im ganzen Land teilnehmen, versammeln sich Tausende Menschen rund um die Gethsemanekirche. Sie demonstrieren in und um die Kirche für ein anderes, offenes Land DDR. „Wachet und betet“ heißen die Mahnwachen und Fürbitten, die in der Kirche stattfinden. Seit dem 2. Oktober bereits harrt eine Gruppen junger Menschen in der Kirche aus, manche von ihnen im Hungerstreik. Sie wollen erreichen, dass die Menschen, die die DDR auf den friedlichen Demonstrationen festnahm, wieder freigelassen werden. Das West-Fernsehen sendet von der Gethsemanekirche aus nahezu pausenlos, das DDR-Fernsehen schweigt. 

Die Kirche selbst ist seit Anfang Oktober rund um die Uhr geöffnet. „Das äußere, sichtbare Bild der Mahnwache war zeitweise recht bunt.“, erinnert sich Werner Widrat, der in dieser Zeit Pfarrer der Kirchgemeinde Gethsemane ist. „Manche Mitglieder der Mahnwache waren Tag und Nacht in der Kirche, einige schliefen auch dort. Ihnen wurde von der Bevölkerung ringsherum große Solidarität entgegengebracht. Sie bekamen Sach- und Geldspenden.“ 

Am 7. Oktober mischen sich auch Stasi-Leute unter die Protestierenden, schlagen irgendwann brutal auf Männer, Frauen, Kinder ein. Einige können in die bereits überfüllte Kirche fliehen, andere werden von Polizisten eingekesselt. Verhaftungen derer, die „Wir sind das Volk!“ rufen, folgen. Erst Tage später werden sie wieder freigelassen. Thomas Rohloff aus Prenzlauer Berg gehört zu denjenigen Demonstrierenden, die vor Staatssicherheit und Polizei fliehen können. 19 Jahre war er damals: „Für mich war in den Westen wegzugehen kein Thema, ich bin hier aufgewachsen, meine Familie lebte hier.“ Er lebt heute noch in Pankow und erinnert sich an den friedlichen Herbst 1989 als einen, in dem eine unglaubliche Stimmung von Aufbruch, Hoffnung und Angst herrschte. Gut, dabei gewesen zu sein.

Friedliche Revolution 1989 Berlin Prenzlauer Berg
Blick hinter die Türen: Im Interview-Projekt von Karla Sachse erinnern sich weitere ProtagonistInnen des Herbstes 1989. Aufkleber auf den Straßen weisen darauf hin, eine Homepage versammelt die Stimmen. Foto: BZPB

DIE, DIE BEFRIEDETEN

„Es ging oft wesentlich um die Frage: Sollten wir weitermachen, verkraftet der Kirchenraum die vielen Menschen?“, erinnert sich Hans Simon, damals Pfarrer der Zionskirchgemeinde. „Natürlich hatten wir Angst“. Zwei Jahre zuvor hatte die Staatssicherheit die in der Gemeinde ansässige Umweltbibliothek gestürmt und die Aktiven verhaftet, die Druckmaschinen für die friedlichen Flugblätter konfisziert. Doch Simon habe auch im Oktober 1989 aus seinem Glauben Kraft gezogen: „Die Kirche hat die Aufgabe, den Menschen Raum für Sprache zu ermöglichen. Und das hat sie im Oktober getan. Sie gab ein Sprach-Dach.“ Für die drinnen und für die draußen. Viele weitere Oktober-Tage lang.

Dann, endlich, die Wende. Erich Honecker tritt von seinen Ämtern zurück. Egon Krenz, eilig zum Staats-Chef der DDR berufen, verkündet am 18. Oktober tatsächlich die „Wende“ und hebt den Schießbefehl für Demonstrationen auf, den es offiziell gar nicht gab. Immer mehr Menschen wagen sich auf die Straßen, wagen zu sprechen. Aus den Demonstrationsrufen „Wir sind das Volk“ wird „Wir sind ein Volk.“ Dann geht die Mauer auf.

Am 9. Oktober erinnert die Gethsemanekirche mit der „Nach der Lichter“, mit Lesung, Ausstellungseröffnung und Gebet an die friedliche Revolution. Ein Telefonanruf übermittelte damals während eines Friedensgebets in der Kirche die gute Nachricht: „In Leipzig wird nicht geschossen.“

-al-,  Okt. 2019