5. PRENZLAUERBERGINALE

Der verborgene Stadtteil

Der Kiez im Kino – mit diesem so schlichten wie zutreffenden Claim läuft im März zum fünften und vielleicht letzten Mal die Prenzlauerberginale. Festivalmacher Stephan Müller bringt diesmal einen Kiez auf die Leinwand, der bisher unbekannt war – weil er tief und unentdeckt in Archiven, im kulturellen Gedächtnis, lagerte. 

Woraus besteht unser kulturelles Gedächtnis? Auch aus Filmen, die unser Leben und unsere Gesellschaft zeigen. Erfundene Bilder oder unverfälschte, geschönte oder abgründig beobachtende fügen sich zu einem Kosmos, aus dem wir Genuss und Erkenntnis, Puzzle-Teile unserer Identität schöpfen. Auch im Kleinen, auf Kiez-Niveau. Und es ist das große Geschenk von Stephan Müller an uns, dass er uns diesen Kosmos mit der Prenzlauerberginale offenbart.

In diesem Jahr bereits zum fünften Mal. Für dieses fünfte Mal hat Stephan Müller, „ich bin ja Historiker“, besonders tief ins kulturelle Gedächtnis geblickt und Verborgenes gefunden, das, geht es nach dem Willen seiner ErfinderInnen, gar nicht entdeckt werden sollte. Nicht von unserer Generation. Die Dokumentarfilme, die am zweiten Abend der vierteiligen Prenzlauerberginale zu sehen sind, sind gedreht für Menschen einer fernen Zeit. Gewissermaßen als Vermächtnis des Sozialismus. Von 1971 bis 1986 entstanden im Auftrag der Staatlichen Filmdokumentation rund 300 Filme über den Alltag in der DDR. Das Material wurde sofort archiviert, sollte später einen unverstellten Blick auf eine sozialistische Gesellschaft im Aufbau zeigen. Der gute Nebeneffekt: Die Filme konnten offen und frei von Zensur auch die Defizite des Alltags zeigen. 

Stephan Müller hat das Material zum Thema Wohnen für die Prenzlauerberginale zusammenschneiden lassen. Er stellt es propagandistischen Beiträgen der DEFA-Wochenschau und Berichten des DDR-Fernsehens aus den 70er und 80er Jahren gegenüber.

PrenzlauerBerginale Berlin Prenzlauer Berg
Prenzlauerberginale Eins, „Bürgschaft für ein Jahr“: Katrin Sass in ihrer ersten großen Rolle.

DAS FILMARCHIV PRENZLAUER BERG

Das filmische Gedächtnis von Prenzlauer Berg. Es lagert in den Archiven der DEFA-Stiftung und des Bundes, im Deutschen Rundfunkarchiv, an der Babelsberger Filmhochschule und bei den einzelnen Fernsehsendern. Müller recherchiert online und vor Ort, sichtet Filme, sortiert ein und aus. Erfindungsreichtum bei der Recherche ist gefragt, denn die Stichwortsuche „Prenzlauer Berg“ ergibt kaum Treffer – die Fernseh- oder Kinofilme sind nach unterschiedlichen Kriterien archiviert. Im Laufe der Jahre, nach vier Prenzlauerberginalen, ist so ein eigenes Prenzlauer-Berg-Film-Archiv entstanden. Einzigartig bisher, was Müller zusammengetragen hat.  

In diesem Jahr folgt das Programm der Prenzlauerberginale keinem thematischen Schwerpunkt, ist breiter aufgestellt und bringt noch mehr Verborgenes zum Alltag, zu Idealen, zum Kiez-Charakter. „Netto“ etwa mit einem wunderbar verlorenen Milan Peschel, 2005 auf der Berlinale ausgezeichnet. „Netto“, in dem Peschels Figur mit Hilfe seines Kindes einen beruflichen Neustart versucht, durfte viele Jahre nicht gezeigt werden, weil die Aufführungsrechte für die Filmmusik abgelaufen waren. Es kostete viel Zeit, viel akribische Arbeit, diese Rechte wieder zu erlangen. Auch dieser Einblick in das Machen der Prenzlauerberginale fördert etwas zutage: Welch ungeahntes filmisches Material in Archiven lagert – und aus rechtlichen Gründen nicht auf der Leinwand oder dem Bildschirm zu sehen ist. Das verborgene kulturelle Gedächtnis.

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Prenzlauerberginale Zwei, „Netto“: Milan Peschel sucht einen Neubeginn. Foto: PBGnale

FILMSTOFF VOR DER HAUSTÜR

Warum überhaupt gibt es so viele Filme über Prenzlauer Berg? Und gemeint sind Filme, in denen der Stadtteil selbst zum Protagonisten wird, mehr ist als reine Kulisse. Möglicherweise, weil ab den 70er und 80er Jahren viele Filmleute in den Prenzlauer Berg zogen und das Leben vor ihrer Haustür zu ihrem Thema machten. Vergleichbar viel Filmmaterial gäbe es auch über den Bezirk Mitte, sagt Stephan Müller. Für den Pankower Stadtteil Weißensee indes wäre vielleicht ein Filmabend möglich, für eine ganze Reihe reichten die Weißenseer Filme bei weitem nicht. 

Die große Katrin Sass ist zur fünften Prenzlauerberginale mit dabei, nicht mit ihrer „Weißensee“-Figur als widerständige Sängerin. In „Bürgschaft für ein Jahr“ von 1981, ihrer ersten großen Rolle, gibt sie eine gestrauchelte alleinerziehende Mutter. Für ihre herausragende Darstellung erhielt sie zur Berlinale 1982 den Silbernen Bären. Eine Sensation damals.

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Prenzlauerberginale Drei, „Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?“: Dokumentation über eine Kohlehandlung kurz vor dem Mauerfall. Fotos (2): DEFA-Stiftung

ABSCHIED UND REMINISZENZ

Gibt es eine spezifische Prenzlauer-Berg-Filmästhetik? Stephan Müller, der unzählige Filme gesehen hat, „sicher doppelt so viele, wie wir gezeigt haben“, überlegt bei dieser Frage lange, verneint dann. „In den Dokumentarfilmen spielt oft das Thema des Arbeiterbezirks eine Rolle.“ Den DEFA-Spielfilmen hingegen sei anzumerken, dass ihre MacherInnen oft bereits eine Schere im Kopf hatten, was gezeigt werden durfte und was nicht. 

2015 fing es an mit der Prenzlauerberginale, damals noch im Prenzlauer Berg Museum an der Prenzlauer Allee. Weil dort an den Abenden bis zu 250 Menschen kamen, zog das Festival ab dem Folgejahr ins Kino Babylon um. Eine Reminiszenz an die Premiere damals ist der Abschlussabend 2020: Noch einmal wird dort der schmerzhaft-reale Dokumentarfilm „Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?“ gezeigt, jener Film über eine private Kohlenhandlung, deren Chefin und ihre Angestellten kurz vor dem Ende der DDR.

-al-,  März 2020

Prenzlauerberginale

am 10., 17., 24. und 31. März 2020,

jeweils 19.30 Uhr im Kino Babylon.

www.prenzlauerberginale.berlin