Die wiederholte Abwesenheit alter Paare

Hier war mal eine Baulücke: Funktionsbau in der Christburger, neben der Schule.
Hier war mal eine Baulücke: Funktionsbau in der Christburger, neben der Schule.

Ein Nord-Süd-Gefälle des Stils und des Genusses: Im Wins-Kiez hat jede Straße ihre eigene Funktion. Und der Fernsehturm ist zum Greifen nah.

Stille im Leisepark an der Heinrich-Roller-Straße. Ein paar kleine Tapsen im Schnee, dem ersten dieses Jahres. Nicht von Füchsen, die hier ja auch leben und morgens über die Straße huschen. Tapsen von Kinderschuhen, schief und schräg in diesen ersten Schnee gesetzt. Auf den Leisepark, jene Mischung aus altem Friedhof, Spielplatz und Grünanlage, ist der Wins-Kiez zu Recht stolz. Im Sommer schlucken Bäume und Überreste der alten Grabsteine die Rufe und das Gequietsche der spielenden Kinder, sind die Wiesen mit Picknick-Decken bestückt. Im Winter ist es ohnehin stiller und leerer. Bis auf die paar Tapsen im Schnee. Schade nur, dass das Tor zum Leisepark schon um 17 Uhr geschlossen wird. Zur Friedhofsruhe.
Dann also die Winsstraße hinauf, Namensgeberin und Magistrale des Quartiers. Knut Elstermann beschreibt die Straße in seinem Buch „Meine Winsstraße“ als Straße der Menschen, die hier in den 60er Jahren lebten. Es ist der liebevolle Blick des früheren Kindes auf rundliche Tabakverkäuferinnen, Fernseh-Schönheiten und das vollständige Fehlen alter Paare. Die Männer waren im Krieg geblieben, die alten Frauen lebten in den Erdgeschoss-Wohnungen und schauten tagsüber aus dem Fenster.

Ritter an der Winsstraße. Knut Elstermann nannte das Haus, als er ein Kind war und hier lebte, das „Ritterhaus“. Fotos (3): al
Ritter an der Winsstraße. Knut Elstermann nannte das Haus, als er ein Kind war und hier lebte, das „Ritterhaus“. Fotos (3): al

Heute fehlen die alten Paare auf der Winsstraße auch. In den Erdgeschoss-Wohnungen leben junge Familien mit drei Kindern, haben Casting-Agenturen ihre Studio-Büros eingerichtet. Stimmt so auch nicht. In einem Erdgeschoss in der Christburger Straße lebt ein altes Hausmeister-Paar. Sie gehen nur selten gemeinsam raus. Der Mann knickt die Kartons in die Mülltonnen hinten im Hof, die Frau schaut derweil vorn aus dem Fenster.   
Doch der Reihe nach, von Süd nach Nord, von Heinrich-Roller-Straße hoch zur Danziger. Die Christburger kommt da erst an vierter Stelle.
Es gibt ein eigenartiges Nord-Süd-Ge-fälle in diesem Kiez. Im Süden, am Leise-park, wo der Fernsehturm riesig erscheint, sind die schönen großen Häuser, die wieder Stuck an den Fassaden haben und einladende breite Eingänge mit Holztüren und Spiegeln in den Hausfluren. Hier herrschen Stil und Genuss. Kleine Schmuckateliers, die zugleich Cafes sind, Massage-Oasen und feine Italiener reihen sich auf der südlichen Winsstraße an Weinläden und Wohnambiente-Stores. Die Immanuelkirchstraße liegt da quer mit ihrem Hauch alternativer Kunst. Das winzige Antiquariat hat seltsame Öffnungszeiten, Kunstbände und riecht ein wenig nach Rauch und stark nach alten Büchern. Im Cafe nebenan gibt es portugiesische Croissants, täglich eine Handvoll Zeitungen und donnerstags Wohnzimmer-Kino. Ein Schauspielstudio ist hier, eine kleine Galerie und ein Laden mit selbst gebastelten Lampenschirmen. Dann die Kirche, deren Gemeinde eifrig Geld für die Sanierung sammelt.
Die nächste Straße gen Norden ist die Marienburger Straße. Manchmal scheint es, als wäre sie und nicht die Winsstraße die Magistrale des Quartiers. Die Fahrbahn breit, als wäre hier einst eine Straßenbahn durchgezuckelt, die Gehwege belebt. Die Marienburger ist die Familienstraße. Auf dem Platz an der Marie, den Bezirk und Anwohner um die Jahrtausend-Wende zum Kiez-Platz gestaltet haben, toben das ganze Jahr über Kinder, spielen Jugendliche Tischtennis oder hängen ab. Das Puppentheater hat vorn einen Eisverkauf, der Platz an der Marie auch einen Abenteuerspielplatz. Vis a vis und nebenan gibt es Läden mit Spielzeug aus Holz und Bio-Klamotten. Der Baby-Ausstatter hat dichtgemacht, so verändert sich die Infrastruktur mit dem Alter ihrer Bewohner. Die Eckkneipe, in der wochentags die brotlosen Künstler und einsamen Herren saßen, meistens in Personalunion, und sich an Fußballabenden und -samstagen mit den Familienvätern und -müttern zum Public Viewing vereinten, gibt es auch nicht mehr. Sie ist eine Pizzeria geworden, mit Stroh auf dem Boden und verschnörkelten Wurzeln an den Wänden. Die Pizza-Stücke werden auf großen Holzbrettern serviert, in Familiengröße.

Spielen das ganze Jahr über: Das Holz-Piratenschiff auf der Marie.
Spielen das ganze Jahr über: Das Holz-Piratenschiff auf der Marie.

Oberhalb der Marienburger beginnt der Norden des Quartiers und der ist irgendwie: schmucklos, oder, wohlwollend ausgedrückt: geradlinig. Einige Häuser stehen in unsaniertem Grau, an den meisten anderen fehlt der Stuck. Zwei Grundschulen machen die Christburger zur Schulstraße. Weil eine davon, die Grundschule an der Marie, einst ein Kinderkrankenhaus war, siedeln Arztpraxen und eine Apotheke im Umkreis, auch ein Fitness-Studio und eine Babysitter-Agentur.
Der Norden hatte die meisten Baulücken des Quartiers, jetzt sind sie gefüllt. In jener zeitlos anmutenden geometrischen Architektur, mit schnurgeraden Fassaden und Fensterfronten, die Transparenz verheißen soll. Manchmal, etwa an der Ecke Jablonskistraße, schieben sich die neuen Häuser wie Barrikaden auf die Kreuzung. Unweit der Stelle war mal ein kleines Kino, weiß Knut Elstermann.
Jablonski- und darauffolgende Chodowiecki-Straße ähneln aneinander sehr. Sie wirken eng und düster trotz der kleinen Straßenbäume, die Sonne schafft es selbst im Sommer kaum, sie zu erhellen. Es sind Wohnstraßen, mit vereinzelten kleinen Büros für Filmfirmen oder Verlage dazwischen. Auf den beiden Spielplätzen auf der Jablonski-Straße spielen selten Kinder, öfter verirrt sich eine Katze hierher. Das ist schade, weil wahrscheinlich irgendwann jemand auf die Idee kommt, das bisschen Grün auch noch zuzubauen. Auf beiden Straßen ist schon der Lärm der Danziger Straße zu hören und drüben liegen die Plattenbauten des Thälmann-Parks. 
Dann lieber wieder zurück in den Süden, einen Kilometer die Winsstraße herunter. Denn die schönste Straße des Quartiers ist die Heinrich-Roller-Straße. Gelb und weiß die Häuser, mit großzügigen Erkern und breiten Gehwegen, auf die im Sommer die Nachbarn ihre Tische stellen zum Buffet oder zum Grillen. Sie trinken spanischen Bio-Wein aus Wassergläsern und schwatzen, als wären sie auf einem Dorfanger und nicht mitten in Berlin. Die Kinder laufen derweil rüber in den Leisepark.
Katharina Fial (Feb 2014)