Die Rettung der kleinen Stadtteilbibliothek

... aufgeschrieben von Christine Kahlau, Oktober 2008, überarbeitet 2014

Zeitschrift Prenzlauer Berg Magazin
Die Bibliothek in der Esmarchstraße

Das Viertel in dem ich seit vielen Jahren lebe, mitten in Berlin, war

schon früher sehr beliebt, vor allem bei Familien mit Kindern. Bald

nach der Wende wurde hier aufwendig saniert, auch mit dafür vom Senat bereit gestellten Geldern. Viele der alten Mieter, die seit Jahren hier gelebt hatten, zogen fort, teils weil sie sich die Wohnung nach der

Sanierung nicht mehr leisten konnten, teils um den Strapazen aus zu

weichen, ausgelöst durch die meist umfangreichen Bauvorhaben.

Viele Hochbetagte zogen zu ihren Kindern oder gingen ins Altersheim.

Statt dessen zogen Menschen aus anderen Gegenden Deutschlands hierher, viele aus dem westlichen Ausland. Manche von ihnen kamen als Familien, andere gründeten hier erst eine. Viele Kinder wurden geboren und noch heute bestimmen Familien mit Kinderwagen und kleinen Kindern hier das Straßenbild. Etliche der sanierten Wohnungen wurden umgewandelt in Wohneigentum. Die Veränderungen lösten in ihrer Gesamtheit bei etlichen Alteingesessenen im Viertel, so auch bei mir, allerlei Unwohlsein aus.

Die steigenden Mietpreise, die Zunahme von Cafès und Restaurants und hochpreisigen Geschäften, anstelle ehemals kleiner Läden und Handwerke ließen einen sich zunehmend fremder fühlen in einer vertrauten Gegend.

Viele Freunde und Bekannte hatten zudem das Viertel bereits verlassen.

Eines Tages, Ende 2007 wurde bekannt, dass die kleine Stadtteilbibliothek geschlossen werden soll, weil dem Bezirk das Geld für die Fachkräfte fehle. Nach Verkündigung dieses Beschlusses begann sich eine Gruppe von Bürgern zu treffen, die mit dieser Entwicklung nicht einverstanden waren und etwas dagegen tun wollten. Es stellte sich heraus, dass sich dazu Alteingesessene wie auch Neuzugezogene einfanden.

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18 Wochenstunden leisten die ehrenamtlichen Helfer, um die Bibliothek offen zu halten

Die drohende Schließung der Bibliothek brachte die Anwohner zusammen.

Man sammelte gemeinsam tausende Unterschriften gegen die Schließung und übergab sie dem Senat. Es gab solidarische Lesungen von Autoren aus ganz Berlin. Als alles nichts nützte, kam es vor dem endgültigen Aus der Bibliothek zur Besetzung eines ihrer Räume im Untergeschoss.

Die Besetzer beschlossen dann, die Bibliothek, da die Schließung doch nicht zu verhindern war, ehrenamtlich zu übernehmen. Dafür wurde ein Verein gegründet. Als nächstes arbeiteten die Bürger ein Konzept aus, in dem sie dem Bezirk folgenden Vorschlag unterbreiteten: Ihr bezahlt die Bücher, die Räume, die Infrastruktur, dafür übernehmen wir alle Arbeiten, ehrenamtlich. So bleibe die Bibliothek dem Kiez erhalten. Später, so dachten die Bürger sich, wenn der Bezirk irgendwann wieder mehr Geld habe, müsse er aber wieder eine bezahlte Fachkraft anstellen. Uns allen war das Problematische dieser Art von Problemlösung klar. Bürgerarbeit kann nicht auf Dauer Ausweg sein für immer klammere öffentliche Kassen. Dank der Unterstützung der in der BVV vertretenen Parteien, ließ sich der Bezirk nach langen, zähen Verhandlungen auf den Deal ein. Im Sommer 2009 wurde die Bibliothek wieder eröffnet, mit einem reduzierten Anteil des ehemals vorhandenen Medienbestands.

Für alle Beteiligten war und ist es eine große Herausforderung, den normalen Tagesbetrieb der Stadtteilbibliothek ehrenamtlich aufrecht zu erhalten. Doch erfreut sie sich stetig wachsender Besucherzahlen.

Die Lesefreudigkeit scheint ungebrochen! Viele der hier aufwachsenden Kinder besuchen die Bibliothek mit ihren Kitas oder Klassen. Wenn sie größer sind, kommen sie allein und leihen sich Bücher und Medien aus.

Viele Leser wählen sich Literatur aus einem über Jahre gewachsenen, sorgsam gepflegten Bestand. Inzwischen gibt es ein reges Vereinsleben, mit Arbeitsgemeinschaften zu wichtigen Themen rund um den Kiez. Veranstaltungen und Lesungen werden organisiert, sowie Ausstellungen.

Es gibt Kooperationen im Kiez mit sozialen Trägern, mit den Kitas, Schulen und Initiativen von Anwohnern. Kiezfeste werden organisiert, gemeinsam mit Gewerbetreibenden und Bewohnern aus der Umgebung.

Neue Netzwerke entstehen, Freundschaften bilden sich. Diese Erfahrung der geretteten Bibliothek zeigt, dass man zusammen mehr erreichen kann als einzeln. Und das uns Menschen im Grunde mehr verbindet als trennt, selbst in „gentrifizierten“ Stadtteilen.

 

© Christine Kahlau (Mai 2014) 


10 JAHRE SPÄTER

Wir schreiben das Jahr 2018, Januar. Gibt es sie noch, die Kleine Stadtteilbibliothek im Kiez? Und wie geht es den Ehrenamtlichen und ihrem Verein? Von den Ehrenamtlichen sind im Laufe der Jahre einige weggezogen, haben eine Arbeit gefunden, oder auch ein anderes Ehrenamt. Ein paar der älteren Aktiven sind verstorben. Inzwischen sind etliche neue Ehrenamtliche dazu gekommen. Viele von ihnen arbeiten in der Bibliothek und in den zahlreichen Arbeitsgruppen. Nach wie vor herrscht ein reges Vereinsleben in und um die Kleine Bibliothek herum.

Die Liebe zum Viertel bringt die Menschen zusammen und das Bedürfnis, sich gemeinsam mit anderen aktiv zu betätigen und so für eine gelingende Nachbarschaft zu sorgen.

Ein Kernanliegen aber bleibt es, die Kleine Bibliothek am Laufen zu halten, mit vielen Stunden Einsatz. Obwohl das nicht immer einfach ist, zu gewährleisten, merken manche Nutzer gar nicht, dass hier ausschließlich Ehrenamtliche ihren Dienst versehen. Mit Unterstützung der Bibliothekar*innen im Bezirk, werden alle, selbst größere Herausforderungen bewältigt. Daneben setzen sich die Ehrenamtlichen dafür ein, dass eines Tages wieder bezahlte Fachkräfte zurückkehren. Dafür nutzten sie jede sich bietende Gelegenheit, um unermüdlich für ihr Vorhaben bei der Politik und im Bezirk Pankow zu werben. Doch fehlen nach wie vor die finanziellen Mittel, um wieder Personal in der Kleinen Bibliothek einzustellen.

Eines Tages aber ist es dann doch so weit. 2017 verkündet der Berliner Senat ab dem kommenden Jahr, zusätzliche Mittel an alle Bezirke zu verteilen, welche endlich für zum Teil schon lange benötigte und geplante Vorhaben eingesetzt werden sollen. Der Bezirksbürgermeister, der Stadtrat und der Bibliotheksleiter von Pankow beschließen daraufhin, in der Kleinen Bibliothek endlich wieder bezahlte Bibliothekarinnen einzustellen.

Den Ehrenamtlichen des Vereins kommt das selbst wie ein Wunder vor. Doch macht es sie auch stolz auf das Erreichte. Denn ohne sie, wir erinnern uns, würde die Kleine Bibliothek längst nicht mehr existieren.

Am 2. Januar 2018 beginnen die Hauptamtlichen ihren Dienst und damit auch viele Veränderungen in der Kleinen Bibliothek. Das bedeutet für die Ehrenamtlichen, manch lieb Gewordenes loszulassen, auch Bücher und andere Medien. Und sich zu öffnen für die neue Ausrichtung der Kleinen Bibliothek, die moderner wird und sich vor allem nun stärker ausrichtet auf Kinder und Jugendliche, was Sinn macht in diesem kinderfreundlichen Kiez. Damit bleibt die Kleine Bibliothek im Bezirk langfristig gesichert.

Dazu gehöre auch weiterhin das Engagement der Ehrenamtlichen, heißt es. Die Kleine Bibliothek bleibe so ein Ort der Wissensvermittlung, des kulturellen Austausches sowie der sozialen Begegnung zwischen Leser*innen, Anwohner*innen, Aktive, jung und alt u.s.w..

Doch zuallererst gibt es gleich zu Anfang des Jahres ein Fest in dem Haus, in dem sich die Bibliothek befindet. Ein Fest für den Kiez, wo die Übergabe der Kleinen Bibliothek zurück an den Bezirk öffentlich und feierlich begangen wird. Alle sind herzlich eigeladen, mit zu feiern! Dieser Tag ist übrigens auch der Geburtstag des Dichters Kurt Tucholsky, dessen Namen die Kleine Bibliothek seit vielen Jahren trägt.

Diese Geschichte findet hier nun ihr gutes Ende. Die Geschichte der Kleinen Bibliothek aber wird weiter gehen. Wie, darauf darf man gespannt sein.

© Christine Kahlau (Januar 2018)